Totenbettchen
Haupt-Reiter
von Rainer Trampert
Als ich ein kleines Kind war, durfte ich noch Waffen tragen. Wenn Kindermaskerade war, fiel den Jungs, aber auch den Müttern, sowieso nichts anderes ein als Cowboy oder Chinese. Auf dem Fest liefen dann 20 Cowboys und zwei Chinesen herum. Die Mädchen kamen alle als Engel mit riesigen goldenen Flügeln. Was will ich damit sagen? Wir haben damals nicht vorm Fernseher gehockt; wir schossen noch selber.
Deshalb konnten wir auch noch rückwärts gehen, was Kindern heute schwerfallen soll. Nun behaupten Sozialforscher, wir hätten rückwärts gehen können, weil uns noch Märchen vorgelesen wurden. Das stimmt nicht. Davor hatten wir eine Heidenangst; egal ob Grimms Märchen, Struwwelpeter oder Wilhelm Busch. Wenn Oma sagte: „So, jetzt les‘ ich dir mal ne schöne Geschichte vor“, fing man zu zittern an. Aber wer will seine Oma enttäuschen? Also setzte sie sich ans Bett und las aus Grimms-Märchen: „Das eigensinnige Kind“.
„Es war einmal ein Kind eigensinnig und tat nicht, was seine Mutter haben wollte. Darum hatte der liebe Gott kein Wohlgefallen an ihm und ließ es krank werden, und bald lag es auf dem Totenbettchen.“
Aber Oma, das ist doch der liebe Gott! - Ja, deshalb wollte er die Mutter auch von diesem missratenen Kind erlösen. - Durch dessen Hinrichtung! Aber das Kind war verdammt eigensinnig. Als es
„ins Grab versenkt war, kam auf einmal sein Ärmchen wieder hervor und reichte in die Höhe, und wenn sie es hineinlegten und Erde darüber taten, so half das nicht, das Ärmchen kam immer heraus.“
Und so musste die Mutter selbst
„mit der Rute aufs Ärmchen schlagen, und wie sie das getan hatte, zog es sich hinein, und das Kind hatte nun erst Ruhe unter der Erde.“
Lange Zeit wurde ich den Albtraum nicht los: Ich bin lebendig begraben, krieche aus dem Erdloch, aber meine Mutter schlägt mich ins Grab zurück, bis meine Kräfte erlahmen. Horrorfilme sind ab 16 freigegeben, Märchen schon ab 3, weil sie im Unterschied zum Horrorfilm pädagogisch wertvoll sind. Du lernst früh: Deine Eltern treiben dir deinen eigenen Sinn nur deshalb aus, weil sie dein Leben retten wollen. Täten sie es nicht, wird Gott dich ermorden.
„Als aber die Mutter nicht aufhören wollte, um ihr totes Büblein zu weinen, kam es Nachts mit seinem Totenhemdchen …“
Muss das sein?
„ … und sprach: ‚Hör auf zu weinen, sonst wird mein Totenhemdchen nicht trocken von deinen Tränen.“
Hör’ doch mal auf damit!
„Es war ein altes Mütterchen, das saß allein in seiner Kammer: es dachte so darüber nach, wie es erst den Mann, dann die beiden Kinder und alle Verwandte, endlich auch noch den letzten Freund verloren hatte.“
Schon wieder sind alle tot!
„Da ward es traurig, und vor allem schwer war ihm der Verlust der beiden Söhne, daß es in seinem Schmerz Gott darüber anklagte.“
Oh Gott, das hätte sie nicht tun dürfen.
„Das Mütterchen ging zur Kirche und wunderte sich, dass die mit Menschen angefüllt war. Und wie es die Leute ansah, da waren es die verstorbenen Verwandten …“
Wie gruselig!
„ … Eine Muhme trat hervor und sprach: ‚Dort sieh nach dem Altar, da wirst du deine Söhne sehen.‘ Der eine hing am Galgen, der andere war auf das Rad geflochten. Da sprach die Muhme: ‚Siehst du, so wär’s ihnen ergangen, hätte sie Gott nicht als unschuldige Kinder zu sich genommen. Die Alte ging zitternd nach Hause und dankte Gott auf den Knien, daß er es besser mit ihr gemacht hätte, als sie hätte begreifen können; sie legte sich hin und starb.“
Das ist die Dialektik von Allwissen und Barmherzigkeit. Gott wusste, dass ihre Söhne schlimm enden würden. Also ermordete er sie schon im Säuglingsalter. Aus Barmherzigkeit, um der Mutter die Schande zu ersparen. – Das Kindersterben macht einen ganz fertig. Es muss doch auch erzieherisch wertvolle Werke geben, in denen Kinder mal überleben.
„Sie einmal, hier steht er. Pfui! Der Struwwelpeter.“
Genau, der war schmutzig und
„kämmen ließ er nicht sein Haar. Pfui! Ruft da ein jeder. Garst’ger Struwwelpeter.“
Kinder aus gutem Hause riefen armen Kindern, die auf dem Feld arbeiten mussten und dreckig waren, ständig „Pfui“ hinterher. Das kannten sie so aus dem Struwwelpeter. - Noch was Lustiges!
„Konrad‘, sprach die Frau Mama, ‚ich geh aus und du bleibst da. … Und vor allem, Konrad hör! Lutsche nicht am Daumen mehr; denn der Schneider mit der Scher‘ kommt sonst ganz geschwind daher, und die Daumen schneidet er ab, als ob Papier es wär.“
Kaum ist die Mutter weg, lutscht Konrad am Daumen.
„Bauz! Da geht die Türe auf, und herein in schnellem Lauf springt der Schneider in die Stub. Weh! Jetzt geht es klipp und klapp mit der Scher‘ die Daumen ab. Hei! Da schreit der Konrad sehr.“
Lauft mal ohne Daumen herum! Das ist eine Lehre fürs Leben. Konrad wird in Zukunft um jeden Schneider einen Bogen machen.
„Der Kasper, der war kerngesund, ein dicker Bub und kugelrund; die Suppe aß er hübsch bei Tisch. Doch einmal fing er an zu schrei’n: ‚Ich esse keine Suppe! Nein! Nein, meine Suppe ess ich nicht!“
Er magert ab und
„am dritten Tag, o weh und ach! Wie ist der Kasper dünn und schwach! Am vierten Tage gar der Kasper wie ein Fädchen war. Er wog vielleicht ein halbes Lot – und war am fünften Tage tot.“
Nicht schon wieder!
„Paulinchen aber freut sich sehr und sprang im Zimmer hin und her. Doch Weh! Die Flamme faßt das Kleid … Es brennt die Hand, es brennt das Haar, es brennt das ganze Kind sogar.“
Schluss! Mach’ mal etwas Normales. Etwas, wo die Familie gemütlich beim Abendbrot sitzt und die Mutter depressiv ist.
„Und die Mutter blickte stumm auf dem ganzen Tisch herum.“
Ja, der Sohn Philipp zappelt und schaukelt
„Philipp, das missfällt mir sehr!“
sagt der Vater. Aber Philipp macht weiter,
„bis der Stuhl nach hinten fällt.“
Er hält sich am Tischtuch fest, reißt alles runter.
„Vater ist in großer Not und die Mutter blicket stumm auf dem ganzen Tisch herum.“
Die war ziemlich depressiv. Aber in Grimms Märchen kommen Frauen oft noch schlechter weg. Hänsel und Gretel fliehen vor der bösen Stiefmutter in den Wald; da lauert die Frau in Gestalt einer kannibalistischen Hexe auf Kinder. Auch Witwen taugen nichts. Eine hat zwei Töchter,
„davon war die eine schön und fleißig, die andere hässlich und faul.“
Die Faule ist ihre leibliche Tochter, also muss die andere
„spinnen bis ihr das Blut aus den Fingern springt“.
Aber Frau Holle überschüttet das Mädchen mit Gold,
„weil du mir treu gedient hast und fleißig gewesen bist“.
Der Hahn ruft:
„Kikeriki, unsere goldene Jungfrau ist wieder hie.“
Dann zerrt Frau Holle die Faule unter‘s Tor und
„schüttet einen großen Kessel voll Pech aus. Das Pech blieb an ihr hängen und wollte, solange sie lebte, nicht abgehen.“
Geteert und gefedert wie Falschspieler im Wilden Westen. Nein - sie war ja noch ein kleines Mädchen, aber faul! Vielleicht sollte man lieber etwas von Wilhelm Busch nehmen. Bei dem ging’s immer lustig zu.
„Ach was muss man oft von bösen Kindern hören oder lesen! Wie von diesen, welche Max und Moritz hießen. Menschen necken, Tiere quälen, Äpfel, Birnen, Zwetschen stehlen – das ist freilich angenehmer als in Kirche oder Schule festzusitzen auf dem Stuhle.“
Die beiden hängen die Hühner der Witwe Bolte auf. Dann sehen sie: Vorm Haus von Schneider Böck
„floss ein Wasser mit Gebrause“
und darüber führt ein Steg.
„Max und Moritz, gar nicht träge, sägen heimlich mit der Säge – Ritzeratze! – voller Tücke in die Brücke eine Lücke.“
Dann rufen sie:
„He, heraus, du Ziegenböck, Schneider, Schneider, meck, meck, meck!‘“
Der Schneider rennt auf die Brücke, wieder tönt es:
„‚Meck, meck, meck!‘ Plumps, da ist der Schneider weg.“
Onkel Fritze legen sie Maikäfer ins Bett. Doch dann erwischt Bauer Mecke sie, steckt sie in den Sack, rennt zum Müller und sagt:
„Meister Müller, he, heran! Mahl er das, so schnell er kann!“
Und so verenden Max und Moritz
„fein geschrotet und in Stücken“
qualvoll in der Kornmühle. Nun kommt das Dollste:
„Kurz, im ganzen Ort herum ging ein freudiges Gebrumm: ‚Gott sei dank! Nun ist’s vorbei mit der Übeltäterei!!“
Zwei Kinder werden ermordet und die Leute tanzen wie auf dem Schützenfest. Kinder können sich weder körperlich noch argumentativ gegen Erwachsene behaupten, also spielen sie ihnen Streiche. Doch auf Streiche steht der Tod!
Aber, ich möchte mal etwas Schönes. Eine Geschichte mit Königen und Prinzen. Diese Märchen für Erwachsene. Was schert das Kind, ob Aschenputtel eine gute Partie macht, oder Männer hinter Dornröschen her sind.
„Es war einmal ein Königssohn, der ging hinaus in das Feld. Er sah den Himmel an, der war so schön, dass er seufzte: ‚Wie kann ich wohl in den Himmel kommen?“
Da sagt ein greiser Mann:
„Durch Armut und Demut. Wandere sieben Jahre, nimm kein Geld, und wenn du hungerst, bitte mitleidige Herzen um ein Stückchen Brot, so wirst du dich dem Himmel nähern.“
Nach sieben Jahren kehrt er abgemagert zum Schloss zurück und sagt: Hallo, ich bin’s, der Königssohn.
„Aber der Diener glaubte es nicht und lachte. Was soll dem Bettler das gute Essen! Behielts für sich oder gabs den Hunden.“
Der Königssohn setzt sich demütig unter die Schlosstreppe,
„bis er immer schwächer ward. Und so liegt er da tot. Aber als er begraben war, wuchsen am Grabe eine Rose und eine Lilie heraus.“
Das ist für Kinder schwer zu verstehen. Wer immer demütig durchs Leben geht, den lässt Gott verhungern. Dann tut ihm das leid und er schmückt das Grab.
Aber man wusste nie, woran man war. Abends gab es vorm Einschlafen erst ein Märchen, in dem Gott jemanden um die Ecke bringt, danach hieß es: „Lieber Gott, mach mich fromm“. Das Erziehungskonzept ist leicht zu durchschauen: Wenn der kindliche Freiheitsdrang im Märchen tödlich endet, muten Schläge der Eltern und Erzieher wie ein lustiger Zeitvertreib an. Aber zum Glück gab es in meiner Kindheit schon Hollywood. Jeden Sonntag spielte im Kino ein Cowboyfilm. Was habe ich aufgeatmet. Da wurde ohne Ende rumgeballert, aber es war unmoralisch, Kinder zu töten. Das Kindersterben ging erst abends wieder los, wenn Oma mit dem deutschen Kulturgut anrückte.
(ein Stück für zwei Personen mit Originalzitaten aus Grimms Märchen, dem Struwwelpeter und von Wilhelm Busch)