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Über den Ölpreis, den Rubel und das geopolitische Erdbeben

»In diesem Winter verändert sich der Lauf der Welt«, schreibt Die Zeit und prophezeit ein »geopolitisches Erdbeben«. Der Anlass ist kein Meteorit, sondern der Ölpreis, der im vergangenen Jahr in sechs Monaten die Hälfte seines Werts verlor, und der Rubel, der es ihm gleichtat. Der Preis für ein Barrel Öl (159-Liter-Fass) pendelte vier Jahre zwischen 100 und 120 Dollar und stürzte dann auf 60 Dollar ab – an den Börsen, wo Zukäufe und Termingeschäfte abgewickelt werden. »Viele Verträge mit europäischen Abnehmern sind langfristig abgeschlossen«, sagt Katars Energieminister. Zu welchem Preis ist unbekannt. Jeder verdächtigt nun jeden. Wladimir Putin verbreitet, Amerika und Saudi-Arabien wollten Russland zerstören. Venezuelas Staatspräsident sieht dunkle Mächte am Werk, iranische Mullahs behaupten, Saudi-Arabien wolle den Iran vernichten. Nicht Israel, wie Günter Grass verbohrt dichtete. Will Saudi-Arabien das Fracking untergraben, um die USA als Abnehmer zurückzugewinnen, drängen die USA Saudi-Arabien, die Senkung der Fördermengen in der Opec zu verhindern, um – na klar – Russland zu ruinieren?

Die Herren der Zinsen

Auszug aus dem neuen Buch von Rainer Trampert: „Europa zwischen Weltmacht und Zerfall“ – erschienen in „Jungle World“ Nr. 23/2014. Rainer Trampert untersucht den Antisemitismus in Deutschland und in anderen Staaten der Europäischen Union.

Krisen waren immer ein fruchtbarer Acker für Verschwörungen, Propagandalügen, religiöse und esoterische Faseleien. Vor der Aufklärung sollten Juden Ernten verhext haben, nach der Aufklärung steigerte die Naturwissenschaft die Produktivität und maß den Charakter des Menschen an der Ohrlänge, in der modernen Krise teilen linke und rechte Antisemiten dümmlich oder aus Kalkül den Kapitalismus in Anlehnung an die falsche Kapitalismuskritik in einen schaffenden und einen raffenden, nehmen den schaffenden in ihre völkische Obhut und wähnen den raffenden in angloamerikanisch-jüdischen Händen. Die unwissenschaftliche Trennung bildet den Nährboden für die doppelte Propaganda: Sie bietet der kapitalistischen Mehrwertproduktion einen Schutzraum, indem sie die Schicht in der Fabrik oder auf dem Bau als das Produktive heiligspricht, und schiebt alles Ungemach auf die Finanzen und damit auf ein Bündel von antisemitisch konnotierten Krisenbegriffen: Spekulation, vagabundierende Finanzen, globale (internationale) Finanzen, Banken, Börsen, Wallstreet, New York, Zinsen. Wer will, findet in dem Topf ein Stichwort, das zu seiner Verkümmerung passt. So ist die Krise wie alles, was mit Geld zu tun hat und die Suche nach Schuldigen sprießen lässt, ein Fundus für antisemitische Verschwörungen, die sich mit dem Feindbild »Angloamerika« verbrüdern, aber nicht müssen. Im Unterschied zum »Juden« grenzt die Krisenpropaganda gegen die USA sich von einem wirklichen Weltkonkurrenten ab.

Die linke Endzeittheorie

In der Krise kommen Endzeitvisionen besser an als in der Prosperität, obwohl sie auch dann Spannung in den tristen Alltag bringen. Hier geht es nicht um Nostradamus, sondern um die linke Version des eigengesetzlichen Systemuntergangs, abgeleitet aus der Werttheorie, die der Weissagung den Anstrich von Ingenieurswissen gibt, so wie Astrologen die Zukunft mit Zirkel und Zollstock an den Abständen der Gestirne messen. Rosa Luxemburg war eine frühe Verfechterin der Endzeittheorie. Sie schrieb in der „Leipziger Volkszeitung“ (13. März 1899): „Mit der Aufteilung und Verschlingung Asiens“ bleibe dem Kapitalismus „kein neues Gebiet zur Eroberung übrig, die Welt wird dann wirklich verteilt sein“. Die „hoch entwickelte Großindustrie“ fände „keinen Abflusskanal“ mehr. Sobald „der ganze Erdball vom Kapitalismus umspannt ist“, werde „der Kapitalismus (...) am Ende seines Lateins angelangt sein“.

Pitbull Politics - Die geopolitischen Folgen des Konflikts um die Ukraine

Dass die deutsche Regierung heute 25 Prozent der weltweiten Rohstoffvorkommen im Schätzwert von 40 Billionen Dollar, die sich, wenn die Erderwärmung anhält, durch die Erschließung der Tundra und der Eismeere verdoppeln dürften, der neuen Weltmacht China zukommen lässt, verströmt einen Hauch von Götterdämmerung, der sich wohl nur erklären lässt, wenn man die deutsche Russenphobie nach zwei verlorenen Kriegen beachtet, und registriert, dass Geopolitik oft ohne ökonomische Vernunft ist – sie klammert sich zu sehr an Traditionen und Landgewinn.

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