Warum die Europapolitik die Bundestagswahl entscheidet

Abgesehen vom gemeinsamen Krieg gegen Flüchtlinge und Piraten besteht Europapolitik aus permanenter Krisenregulierung, die sporadisch von antiisraelischen Beschlüssen aufgelockert wird. Ansonsten geht jede Nation eigene Wege, es sei denn, sie gehört zu den südeuropäischen Schuldnerstaaten, die allmählich ihre Souveränität verlieren und die ganze Wucht der ehernen deutschen Ambivalenz zu spüren bekommen. Jedes deutsche Kind, dessen Vater im Zweiten Weltkrieg war, bekam täglich zu hören, dass die Ostfront da eingebrochen war, wo Italiener standen. Dann sang er: „Wenn bei Capri die rote Sonne im Meer versinkt ... Bella, bella, bella Marie, bleib mir treu, ich komm zurück morgen früh.“ Im deutschen Bewusstsein war der Süden immer zugleich Paradies und Bedrohung – früher seiner Moral, heute seiner Ersparnisse. Deshalb ist die Europapolitik, die seit 1949 in keiner Wahl eine Rolle spielte, diesmal ein existenzielles Thema.

Der Deutsche fürchtet nichts so sehr wie den Verlust seiner Spargelder, ob durch Inflation, Währungsreform oder Konfiskation wie auf Zypern. Im Wissen darum erneuerte Angela Merkel ihre Garantie für Guthaben bis zu 100000 Euro und bewirkte damit ein kleines Wunder. Es gelang ihr, die Politikverdrossenheit, die eine Demokratieverdrossenheit war, zu verscheuchen. Für Deutsche ist eine Regierung, die ihr Spargeld garantiert, das Größte überhaupt. Das bildet Vertrauen in den Staat, das sie benötigen, um ihre Sehnsucht nach einem versicherten Leben zu stillen. Nach Allensbach befürchten 60 Prozent, dass die Kosten für die Euro-Stabilisierung Deutschland überfordern, aber nur 13 Prozent erwarten von der Bundesregierung Einschnitte in ihre Besitzstände. Merkel ist die Schutzpatronin der Spargelder. Ihr Wort begründet zwar keinen Rechtsanspruch, aber jeder Deutsche weiß: Sie wird zuerst die Konten aller anderen Europäer plündern, bevor es dem deutschen Sparer an den Kragen geht. Mehr Wahlkampf muss nicht sein, mehr Europapolitik verlangen die Deutschen nicht. Deshalb kommt die Alternative für Deutschland (AfD) nicht voran, obwohl sie rechts genug ist.

Mit der Wahl von Merkel honorieren Deutsche, dass ein Drittel der Europäer das deutsche Unternehmerrisiko und die Haftung für deutsche Sparkonten zu tragen hat. Beispiel Irland: 2008 quetschte die irische Regierung 64 Milliarden Euro aus den Iren heraus, um die Forderungen der deutschen Wirtschaft gegenüber irischen Pleitebanken zu begleichen. Das Einkommen der Iren sank um 25 Prozent, weil sie die Haftung für deutsche Risikogeschäfte zu übernehmen hatten. Warum ist das so? Der Hegemon kann anderen seine Bedingungen oktroyieren. Als Gläubiger kann Deutschland an der Spitze der Troika aus Europäischer Zentralbank, Internationalem Währungsfonds und EU-Kommission Schuldenstaaten Hilfskredite gewähren oder verweigern. Ginge ein Staat in Konkurs, verlöre er seine Kreditfähigkeit und könnte keine Energie und andere Importwaren mehr bezahlen. Seine Bevölkerung würde hungern und frieren. Der gleiche Effekt träte ein, wenn Griechenland zur Drachme zurückkehrte. Den größten Anteil an der deutschen Überlegenheit haben der Fleiß und der Lohnverzicht des deutschen Proletariats. In zehn Jahren blieb in Deutschland beispielsweise der Lohnanstieg im öffentlichen Dienst mit 13 Prozent unter der Inflationsrate. In Frankreich stiegen die Löhne im gleichen Zeitraum um 30, in Italien um 40, in Spanien um 50 und in Griechenland und Irland jeweils um 110 Prozent.

Keine Wahl ist ohne Humor. Diesmal äußert er sich in der gemeinsamen Suche nach einer Merkelverschwörung. Ganz dicht dran war die Junge Welt, die von Merkels kalkulierter Demobilisierung durch Entpolitisierung sprach, um „Anhänger der politischen Konkurrenz noch weniger“ zu motivieren „als die eigenen“. Passt doch mal besser auf euch auf! Andere führten ihre Müdigkeit auf die von Merkel inszenierte Langeweile zurück. Ulrich Beck erfand einen Merkiavellismus, dessen Merkmal sei, „etwas nicht zu tun“. Was kann Merkel dafür, dass Sarah Wagenknecht Ludwig Erhard nachtrauert und die SPD einen Kandidaten aufstellt, der Kindern Angst macht, oder dafür, dass die SPD in der Europapolitik allem zustimmt, was Merkel will, um danach über ihren Themendiebstahl zu jammern oder mit ihrem Groß-Plakat: „Wer alles gibt, muss mehr bekommen!“ an die Kampagne zur Steigerung der Normen erinnert. Wie 1948, als das Neue Deutschland jubelte: „Kumpel Hennecke weit voraus! In der Grube ‚Karl Liebknecht’ vom Steinkohlenwerk ‚Gottes Segen’ hat der Kumpel Adolf Hennecke in einer Sonderschicht eine beispielhafte Leistung vollbracht.“ Er hatte in einer unterstützten Aktion die Norm um 387 Prozent überboten, verlangte allerdings keinen Pfennig mehr.

Alle beteuerten gerade, ihnen sei langweilig, da brachte Wolfgang Schäuble mit dem dritten Hilfspaket für Griechenland wieder Leben in die Bude. „Vertuschung!“ - „Schenken Sie den Wählern reinen Wein ein, Frau Bundeskanzler!“ - „Ich kann keine Summe nennen. Ich weiß sie nicht. Man kann sie nicht wissen,“ antwortete Merkel. Das Handelsblatt ermittelte sofort ein deutsches Ausfallrisiko von 150 Milliarden Euro. Die Summe läge aber nur dann so hoch, wenn die Schuldner keinen Cent zurückzahlten, was unwahrscheinlich ist. Außerdem fehlte wieder einmal die Gegenbuchung. Erwähnt wurde nur, dass die Niedrigzinsen für deutsche Staatsanleihen dem Bundeshaushalt von 2010 bis 2013 41 Milliarden Euro eingebracht hätten.    

Wer die Zukunft der Eurozone am Modell studieren will, muss auf Deutschland und Italien blicken, wo zwei verschiedene ökonomische Welten in einem Binnenmarkt unter einem Währungsdach vereint sind. In Deutschland wird der Osten jedes Jahr mit 60 Milliarden Euro alimentiert. Gleiches geschieht mit Italiens Süden seit 1861. Während solche Disparitäten innerhalb der Nationen gerade so ausgehalten werden, fehlt dem Euroraum die nationale Bindungskraft, die einen vergleichbaren „Länderfinanzausgleich“ aushielte. Die Mezzogiornisierung Europas wird voranschreiten und die Eurozone wird die Spannungen zwischen dem hegemonialen Deutschland und der Verarmung der anderen Bevölkerungen kaum aushalten. Niemand kann sagen, wann und wie die Auflösung geschehen wird, aber so, wie er heute existiert, ist der Euroraum bereits Geschichte.

Merkel und Schäuble setzen auf eine gestreckte Abwicklung der Krise im Euro-Verbund, weil Deutschland davon so lange profitieren kann, bis die Abnehmer wegbrechen, und weil eine kleine Chance besteht, die europäische Kapitalbildung zu Lasten des Konsums wieder in Gang zu bringen. Das gilt auch fürs Inland. In Deutschland wird das Spargeld bei Guthabenzinsen von 0,5 Prozent und einer Inflationsrate von 2,5 Prozent in zehn Jahren um 25 Prozent dezimiert und in zwanzig Jahren um 50 Prozent. Was die Krise kostet, werden in Deutschland die Erben zu spüren bekommen. 

Das zweite markante europolitische Thema betrifft eher die kleinen Parteien. Dass Guido Westerwelle bisweilen unglücklich operiert, ist bekannt. Als die Muslimbruderschaft in Ägypten an die Macht gekommen war, erklärte er, Mohammed Mursi sei ein Mann der Demokratie und religiösen Toleranz, während Mursi die Fesseln der Sharia anzog und Juden als „Blutsauger“ diffamierte. Im Juli verkündete Westerwelle, man könne die außenpolitische Handlungsfähigkeit der EU daran erkennen, dass sie allen israelischen Projekten im Westjordanland, in Ost-Jerusalem und auf den Golan-Höhen die Unterstützung entziehe: Stipendien, Zuschüsse, sonstige Hilfen. In einer Epoche, in der die Fußtruppen Irans, Syriens, Saudi-Arabiens und Katars im Krieg um die Vorherrschaft im arabisch-islamischen Raum sich gegenseitig in die Luft sprengen und mit Giftgas umbringen und nebenher christliche Kirchen in Brand setzen und Raketen auf Israel abfeuern, fühlt Europa sich aufgefordert, ein Signal gegen Israel, das niemand bedroht, auszusenden. Man könnte sich doch auch anders bei den Arabern anschleimen, etwa die Mitglieder der ägyptischen Junta als lupenreine Demokraten bezeichnen.

Die Unionsfraktion im Bundestag distanzierte sich wohltuend von der EU und dem Außenminister. Philipp Mißfelder (CDU) kritisierte die Symbolpolitik. Von den Brüsseler Finanzhilfen an Israel flössen nur 0,5 Prozent in Projekte der genannten Gebiete. Außerdem sei Israel dort die anerkannte Verwaltungsmacht, ohne die Entwicklungsprojekte wie Solaranlagen oder Klärwerke nicht errichtet werden könnten. Die Leitlinien der EU hätten eine ähnliche Qualität wie die jüngste Anfrage der Fraktion von Bündnis90/Die Grünen zur Produkt-Etikettierung von Waren aus dem Westjordanland, dem Gazastreifen oder Ostjerusalem. „Anstatt sich israelfeindlich zu äußern“, sollten die Grünen sich auf die wesentlichen Fragen des Nahost-Konfliktes konzentrieren: „das Existenzrecht für Israel, ein Ende von Terrorismus und fundamentalistischer Gewalt sowie die Schaffung von Grundlagen für eine Zwei-Staaten-Lösung, in deren Verlauf auch die endgültigen Grenzen der beiden Staaten geregelt werden.“

So klingt sachliche Realpolitik. Das Gegenteil davon finden wir in einer kleinen Anfrage der Linkspartei „zur Kennzeichnung von Waren aus Siedlungen in den von Israel 1967 besetzten Gebieten“. Darin machte die Fraktion „der Linken“ die Bundesregierung darauf aufmerksam, dass „alle europäischen Staaten verpflichtet (sind), für die Einhaltung und Durchsetzung des humanitären Völkerrechts in Israel und den besetzten palästinensischen Gebieten Sorge zu tragen“. Deutschland hätte demnach „in Israel“ für die Durchsetzung des humanitären Völkerrechts Sorge zu tragen! Was prädestiniert Deutschland für den Status einer israelischen Aufsichtsmacht? Seine Geschichte? Seine Politik, Flüchtlingsboote möglichst in Europa nicht anlanden zu lassen? Seine Umschichtung von Werten aus der Peripherie nach Deutschland? Woher nimmt „die Linke“ die Unverfrorenheit, Israel zu unterstellen, sie halte humanitäre Rechte nicht ein, obwohl Araber in Israel wohnen, arbeiten, studieren, beten und Parteien gründen dürfen, während sich auf den von Arabern beanspruchten Böden kein Jude sehen lassen soll? Warum spezialisiert man sich auf die Markierung israelischer Produkte und verbietet nicht den Import von Waren aus Diktaturen - Kinderspielzeug aus China und Öl aus Saudi-Arabien?

Die Begründung „der Linken“ lautet: Damit „kritische Konsumentinnen und Konsumenten (...) ihre Kaufentscheidung im Sinne der Achtung des Völkerrechts treffen“. Die für die Sondermarkierung vorgesehenen Waren seien „unter völkerrechtswidrigen Umständen produziert“ worden. Bisher ist nur bekannt, dass Palästinenser in israelischen Betrieben normal bezahlt werden, während sie bei palästinensischen Organisationen wegen Kollaboration auf Todeslisten kommen. Warum sollen israelische Firmen mit Rücksicht auf deutsche Konsumenten nicht produzieren dürfen, wo nach Antragslage der Grünen und „Linken“ deutsche Firmen mit nationalsozialistischer Vergangenheit, das sind alle deutschen Firmen mit einer „großen“ Tradition, sich niederlassen dürften. Statt zuzugeben, dass sie Juden nicht leiden können, kriechen diese Spezialisten im Schatten kritischer Konsumenten herum. Die EU befindet sich nach Innen und Außen im Prozess der Fäulnis und die Grünen und die Linkspartei faulen kräftig mit.

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