raffendes und schaffendes Kapital

Die Herren der Zinsen

Auszug aus dem neuen Buch von Rainer Trampert: „Europa zwischen Weltmacht und Zerfall“ – erschienen in „Jungle World“ Nr. 23/2014. Rainer Trampert untersucht den Antisemitismus in Deutschland und in anderen Staaten der Europäischen Union.

Krisen waren immer ein fruchtbarer Acker für Verschwörungen, Propagandalügen, religiöse und esoterische Faseleien. Vor der Aufklärung sollten Juden Ernten verhext haben, nach der Aufklärung steigerte die Naturwissenschaft die Produktivität und maß den Charakter des Menschen an der Ohrlänge, in der modernen Krise teilen linke und rechte Antisemiten dümmlich oder aus Kalkül den Kapitalismus in Anlehnung an die falsche Kapitalismuskritik in einen schaffenden und einen raffenden, nehmen den schaffenden in ihre völkische Obhut und wähnen den raffenden in angloamerikanisch-jüdischen Händen. Die unwissenschaftliche Trennung bildet den Nährboden für die doppelte Propaganda: Sie bietet der kapitalistischen Mehrwertproduktion einen Schutzraum, indem sie die Schicht in der Fabrik oder auf dem Bau als das Produktive heiligspricht, und schiebt alles Ungemach auf die Finanzen und damit auf ein Bündel von antisemitisch konnotierten Krisenbegriffen: Spekulation, vagabundierende Finanzen, globale (internationale) Finanzen, Banken, Börsen, Wallstreet, New York, Zinsen. Wer will, findet in dem Topf ein Stichwort, das zu seiner Verkümmerung passt. So ist die Krise wie alles, was mit Geld zu tun hat und die Suche nach Schuldigen sprießen lässt, ein Fundus für antisemitische Verschwörungen, die sich mit dem Feindbild »Angloamerika« verbrüdern, aber nicht müssen. Im Unterschied zum »Juden« grenzt die Krisenpropaganda gegen die USA sich von einem wirklichen Weltkonkurrenten ab.

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