Katalonien: Der Sprung ins leere Becken

Eine Analyse des Konflikts um Katalonien und des vom Regionalismus zum Ethno-Nationalismus sich aufschwingenden Heimatsinns

 

Der Sieg der ethno-nationalen Leidenschaften über die Vernunft ist das Los unserer Zeit. Jedes Jahr wird irgendwer seine Heimat - Elsass, Korsika, Flandern oder Ostfriesland - als Märchenwunderland austrommeln, das eine Nation verdiene. In diesem Herbst pochen katalanische Separatisten auf ihre nationale Identität, treiben in Wahrheit aber einen Keil in die „eigene“ Gesellschaft - entlang einer untauglichen Konfrontationslinie. Im spanischen Bürgerkrieg war es um alles gegangen, um Demokratie oder Faschismus, heute geht es um die Identität, also um nichts.

    Wer will sich dafür opfern? Das Kapital nicht. Mehrere hundert Unternehmen sind bereits von Barcelona in die Region Madrid gewandert, der neuen Boom-Zone Europas. Sogar der Weltclub Barca, die Ikone Kataloniens, will weg und fragte, um die katalanische Seele nicht zu verletzen, in England nach, ob er in dessen Premier League spielen dürfe. Katalanen ohne Firma liefen in Scharen zu den Banken, um ihre Guthaben auf spanische Filialen zu überweisen. Was vernünftig ist, denn Kataloniens Rating ist auf „Ramsch“ gesetzt. Eine autonome Regierung hätte als erste Amtshandlung die Sparguthaben der Katalanen zu beschlagnahmen.

    Dazu ist es vorerst nicht gekommen. Der Regionalpräsident Carles Puigdemont sprach am 10. Oktober lange über das klare Mandat für die eigene Nation, um am Ende zu „beantragen, dass die Verkündung der Unabhängigkeit aufgeschoben“ werde - „wegen der angespannten Lage“ und weil man nicht zu einem „endgültigen Beschluss“ gekommen sei. Dann unterzeichnete er feierlich das Dokument: „Wir gründen die katalanische Republik als unabhängigen und souveränen Staat" – ein, wie es hieß, nur vorläufiges Manifest, das dem Regionalparlament irgendwann zur Entscheidung vorgelegt werden könne. Im Plenarsaal interpretierte jeder, was er wollte. Die linksradikale, fanatisch separatistische CUP (Kandidatur der Volkseinheit), die Puigdemonts Regierung bis dato zur Mehrheit verholfen hatte, schrie: „Verräter! Verräter!“. Die größte Oppositionspartei „Ciutadans“ kritisierte seinen gefährlichen katalanischen Nationalismus, der das Land ruiniere.

    Dass das abenteuerliche Regierungsbündnis der konservativ-liberalen Junts pel Si (Gemeinsam für das Ja) mit den Volksfreunden der CUP, die einer Koalition von CDU, FDP und MLPD entspräche, nicht lange halten würde, war absehbar. Der eine will keine Steuern abführen, die CUP „den Weg zum Sozialismus einschlagen“, beide vereinte der wacklige Identitätsschirm, sonst nichts. Da die Koexistenz von nationaler Identität und Klassenkampf unmöglich ist, reicht der proletarische Internationalismus der CUP nicht mal bis Zaragoza. Puigdemont hatte Rücksichten zu nehmen. Artur Mas, der Spiritus rector der Unabhängigkeit, fand Katalonien noch nicht reif dafür, die Bürgermeisterin von Barcelona, ebenfalls eine Parteigenossin, warnte vor dem Bürgerkrieg der Katalanen gegen Katalanen, der Exodus des Kapitals war zu stoppen, die angedrohte spanische Zwangsherrschaft nach Paragraf 155 zu umgehen. Puigdemont brauchte Zeit, um die Geister, die er gerufen hatte, wieder loszuwerden, Neuwahlen vorzubereiten und seine Nachfolge zu regeln. Inzwischen hat das Parlament mit 70 gegen 10 Stimmen die Unabhängigkeit beschlossen – 2 Abgeordnete enthielten sich, über 50 hatten den Saal verlassen. Madrid löste daraufhin die Regionalregierung ab und ordnete Neuwahlen im Dezember an.

    Eine katalanische Zeitung fasste klug zusammen: „Wenn die Separatisten den Sprung wagen, wird das Wasser im Becken weder kalt noch warm sein – es wird gar keines drin sein.“ Abgesehen vom Pathos der meist jungen, aktiven und lauten Separatisten fehlte alles, was eine neue Nation ausmacht: Verlässliche Mehrheiten in der Bevölkerung und im Parlament, internationale Anerkennung, ein territoriales Kontrollsystem, Justiz-, Steuer- und Zollbehörden, eine Armee, neues Geld, Kredit aus Madrid. Durch die Abspaltung würde Katalonien die EU und den Binnenmarkt verlassen und den Euro verlieren, wäre also von Zollbarrieren, Grenzmauern und -kontrollen umgeben. Eine Revolution darf Chaos anrichten, aber doch nicht eine kapitalistisch strukturierte Industrie- und Exportgesellschaft, die nur die Nation wechseln, sonst aber alles mitnehmen will: VW (Seat), BASF, Bosch, Siemens, Evonik, Haribo, Lidl, spanische Bekleidungs- und IT-Firmen ... Katalanische Sezessionisten sind auf das Kapital so stolz wie auf ihr Volk. Sie beklagen täglich, dass Madrid sie um die Pfründe ihrer kapitalistischen Hochburg bringe.  

     „Innere“ Gegner der Unabhängigkeit sind die Wirtschaft, die Sozialisten, die größte Oppositionspartei, die großen Gewerkschaften, deren Mitglieder um Arbeitsplätze bangen und mit Schrecken an die neue Fußball-Liga mit zehn Stadtteilclubs aus Barcelona denken. Außerdem ahnen sie, dass der vom Regionalismus zum Nationalismus sich aufschwingende Heimatsinn die Wirtschaft ruiniert, für die, die er zu Fremden macht, gefährlich ist, und ihnen selbst im Namen des Volkswillens Disziplin und volkstümliche Bescheidenheit abverlangen wird. „Sind wir nicht alle Katalanen?!“ Aber ja doch!

    „Spanien verdient uns Katalanen nicht“, sagt ein Elektriker aus Peru. Ein Gewerkschafter ist gegen die Autonomie, weil er gelesen hat, dass VW (Seat) einen Notfallplan für die Umsiedlung nach Madrid in der Schublade haben soll. Ein Marokkaner sagt, er habe in der Schule nur Katalanisch gelernt, „Spanisch habe ich mir später selbst beigebracht“. Er würde sich aber hüten, in der Öffentlichkeit spanisch zu sprechen. Man würde ihn als „Faschisten“ verfolgen. Wer und was sind Katalanen? 70 Prozent der Einwohner sind in den letzten hundert Jahren zugezogen, aus Asien, Afrika, Lateinamerika, Spanien und dem übrigen Europa.

    Zu den „äußeren“ Gegnern zählen der spanische Staat, die EU und das europäische Kapital. Dass Spanien sich nicht in zehn Kleinstaaten auflösen will, verstehen besonders Deutsche, die ein Leben lang um die Wiedervereinigung gerungen haben. Die EU um Vermittlung zu bitten, war reichlich naiv. Eine EU, die auf Wunsch der Provinzen die Verhandlungen über deren Abspaltung führt, hätte sie faktisch als Staaten anerkannt und alle Separatisten zum Aufstand ermuntert. Sie hätte den Mitgliedsstaaten und sich selbst das Grab geschaufelt und auf dem Weg in die Kleinstaaterei die Wertschöpfungsketten zerrissen. EU-Mitglieder sind Spanien, Italien, Belgien, Frankreich, Deutschland, nicht Katalonien, Südtirol, Flandern, Korsika und Ostfriesland. Angeregt durch Katalonien, haben die Rechtspopulisten der Lega Nord Referenden für mehr Autonomie der reichen italienischen Nordregionen Venezien (Venedig) und Lombardei (Mailand) durchgesetzt. Der Rechtsradikalismus verschmilzt mit der Gier der Reichen, den Profit nicht mit armen Regionen teilen zu wollen.

     Albert Peters, der Chef der deutschsprachigen Führungskräfte, ist verärgert. Die meisten der 1.600 deutschen Firmen in Spanien haben ihren Sitz in und bei Barcelona, weil die Katalanen „die Preußen Spaniens“ seien. Aber der Nutzen wäre perdu, wenn die Region sich aus dem EU-Binnenmarkt verabschiedet. Alle Spanier wären über Nacht Ausländer, ein tiefer Riss ginge durch die Belegschaften, und in Spanien käme es zu einer Gegenbewegung: „Kauft keine katalanischen Waren!“ Die Vernetzung mit Spanien und den europäischen Produktions- und Lieferketten macht die Region extrem abhängig von durchlässigen Grenzen, dem Euro, der Zollfreiheit und anderen EU-Freizügigkeiten. Die Wirtschaftsleistung des autonomen Staates würde je nach Schätzung um 20 bis 30 Prozent einbrechen, ebenso Einkommen, Renten, Krankenversorgung.

     Kataloniens Pro-Kopf-Einkommen beträgt 28.600 Euro im Jahr, etwa soviel wie in Sachsen. Das liegt über dem spanischen (24.000), aber unter dem der Regionen Madrid (33.000 Euro), Navarra und Baskenland. Über Verluste durch den Finanzausgleich gibt es keine seriösen Zahlen. Ihm stehen ständige Finanzhilfen aus Madrid gegenüber. Laut „Berner Zeitung“ ist Katalonien mit 75 Milliarden Euro verschuldet, davon mit 51 beim spanischen Staat. Gemessen an der Wirtschaftsleistung ist das überschaubar. Als autonomer Staat müsste Katalonien aber auf dem Finanzmarkt horrende Zinsen zahlen. Und die Perspektive wäre düster, weil die Wiederaufnahme in die EU am spanischen Veto scheitern würde.

     Bleiben als Motive für die eigene Nation die Kultur und das Selbstbestimmungsrecht der Völker. Was ist ein Volk? Was zählt mehr: die territoriale Integrität einer Nation oder ein Volksstamm? Am Ende entscheiden die Machtverhältnisse. Bei der Zerschlagung der Sowjetunion und Jugoslawiens gab der Westen jedem „Volk“ ein Selbstbestimmungsrecht, das sich daran beteiligte. Katalonien und Ostfriesland bekämen das Recht nicht, es sei denn, bedeutende Machtblöcke hätten ein Interesse an der Zerstörung Spaniens und Deutschlands.

    Die Kultur! Zur katalanischen Kultur zählen Menschenpyramiden, der Drachentöter Jordi mit Lanze, schöne Bauwerke, Tanz und Gesang, Spielcasinos, die kapitalistisch strukturierte Seelenverfassung, die sich in dem ständigen Gefühl, um Geld betrogen worden zu sein, ausdrückt, und die Sprache, die im Zuge der strikten Katalanisierung die Spanische verdrängt hat. Kinder hören und lernen „seit dem Kindergarten nur Katalanisch, außer in Spanischstunden“, sagt ein Professor, und in den Verwaltungen sei Spanisch „auf ein Minimum reduziert“ worden. Die Katalanen dürfen Menschenpyramiden bauen, bis sie umfallen, und alles andere dürfen sie auch. Warum sollten sie für nichts den ökonomischen Niedergang und einen Bürgerkrieg riskieren?

    Was sich in Katalonien abspielt, ist exemplarisch für unsere Zeit. Als die Nationen gegründet wurden, gingen die Kapitalbewegung und die Staatsidee Hand in Hand. Nationalbewegungen zimmerten mit Getöse und im Sinne von Industrie und Handel Kleinstaaten und Provinzen zu großen Nationen zusammen. Heute fallen die kapitalistische Moderne und das gesellschaftliche Bewusstsein auseinander. Während der Kapitalismus Städte wie Barcelona, Stuttgart, Prag und Bratislava zu einer Produktionskette verknüpft und eine europäische Nation benötigt, die seine Interessen auf der Welt bündelt, fällt das Massenbewusstsein zurück in die Kleinstaaterei mit eigener Münzprägung, Großvaters Sprache und Heimatfilmen, die nie die Heimat zeigen.

     Wie kommt das? Da ist der Neid der Reichen, die keinen Cent an arme Regionen geben wollen, da sind Abhängige, die ihre Unterwürfigkeit besser ertragen, wenn sie sich an Mächtige und Identitäten klammern. Da ist die in Krisen zu beobachtende Flucht in den „schützenden“ Heimathafen, die eine ethno-kultige Gesinnung fördert, da ist eine Antiglobalisierungswelle, die Kriege, Eroberungen, Krisen nicht dem Kapitalismus und dem Mehrwertraub der Nationen zuschreibt, sondern kosmopolitanen Erscheinungen. Ist das Große das Böse, wird das Kleine, Antiglobale, Nationale, Regionale, Ethnische automatisch als das Gute identifiziert.

    Seit den Erfolgen der AfD sind die Grünen ganz verrückt nach Heimat. Robert Habeck will allen, „die sich wegen der Globalisierung heimatlos fühlen“, eine Heimat verpassen, auch Katrin Göhring-Eckard findet „die Sehnsucht nach Heimat“ schick. Heimat ist der Wunsch, sich die verlorene Kindheit zurückzuholen, in der man an Bach und Birke oder auf Geröllhalden spielen durfte und nicht in den Kampf um die Existenz verwickelt war. Irgendwann rief die Mutter: „Essen ist fertig! Aber erst die Hände waschen!“ Heimat ist also eine Schimäre, die Leute verrückt macht. Man sieht das an Intellektuellen, die den Hokuspokus als ethnisches Grundbedürfnis deuten und uns bedauern, weil die Welt heute so unübersichtlich geworden sei. Ganz anders als früher - im Nationalsozialismus oder nach dem 30jährigen Krieg, als es in „deutschen“ Landen über 300 übersichtliche Staaten und 1.000 arbeitslose Söldnerbanden gab.   

    Journalisten und Politologen bieten neuerdings ein uraltes „Lösungskonzept“ an: die Zerstückelung Europas in über 70 mit nationalen Befugnissen ausgestatteten Regionen. Der Bierbrauer Alfred Heineken erfand 1992 das an Leopold Kohrs („Die Kleinheit ist das Serum gegen die Wucherung der Größe“) angelehnte „Eurotopia“, wonach Europa in 75 autonome Staaten zerlegt werden soll — nach „ethnischen Verbreitungsgebieten“, um „landsmannschaftliche Verbindungen nicht zu stören“. Nach diesem Plan, die jeder Trachtengruppe einen eigenen Staat gewährt, wird Polen diesmal in fünf Teile geteilt. Kleinststaaten dienten dem Frieden, der Sicherheit und der Wirtschaft, heißt es in „Eurotopia“. Da das Kapital in keinem Regionalmodell angetastet wird, würden alle Moldawisierungspläne Europas auf die totale Kapitalherrschaft mit vielen neuen Armenhäusern hinauslaufen. Auch der Friede wäre nicht sicherer, wenn man 75 Nationen in die Konkurrenzschlacht werfen würde.  

 

Eine leicht gekürzte Fassung in „Konkret“ 11/2017