Heimweh nach der Sippe
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Kommentar zum Buch "Der kommende Aufstand"
Einige Anmerkungen vorweg:
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Ich grenze mich ab von Kritiken (wie der in der Taz), die die Weimarer Republik hervorholen, um »rechte und linke Extremisten« in einen Sack zu stecken, offenbar mit dem Ziel, kapitalistische Herrschaftsformen und den Marktdarwinismus vor Anfeindungen zu schützen.
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Exilanten haben neben dem alltäglichen Rassismus neue Wellen der Feindseligkeit zu verkraften, für die Namen wie Sarkozy und Sarrazin stehen. Man wundere sich nicht, wenn unter den Reaktionen auf diese Feindseligkeit auch Verschwörungs- und Beschwörungsprosa ist.
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Zeitungen, die von einem »wichtigen linken Manifest« sprechen, können sich auf »linke« Strömungen berufen, die den Westen und Israel mit Imperialismus sowie Ahmadinejad und die Hamas mit Widerstand gleichsetzen, aber nicht auf ein Links-Sein, das Befreiung von jedem Joch meint und nicht Unterschlupf in einem Verein, der das nächste Joch bereithält.
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Manifeste sind nie gute Schriften, sondern markige Pamphlete, in denen Analyse durch Rekrutierungsoptimismus ersetzt wird.
Davon unbenommen ist »Der kommende Aufstand« eine deprimierende Schrift, in der – geleitet vom Heimweh nach der Sippe und der Naturhaltung des Menschen – der Wunsch nach der Vernichtung der westlichen Zivilisation und die Fesselung sozial befreiender Visionen in einen wirren Einklang gebracht werden. Wie bei »Heidi« soll die Großstadt böse und die Landluft gute Menschen hervorbringen. Daher findet das Unsichtbare Komitee seine »Kommune« in einem »Bergdorf«, wo »das spöttische Lächeln eines in seinen Burnus gehüllten alten Widerstandskämpfers« und »Frauen, die traditionelle Gemüse- und Viehwirtschaft betreiben«, dafür bürgen, dass die Sippe noch intakt ist. Der Mann ist Krieger und noch nicht »stetiger pornografischer Innovation« ausgesetzt, die Frau arbeitet und redet nicht in der »Sprache der Frauenzeitschriften«; in diesem Milieu, wo der Metropolenzug »vom Flirt zur Scheidung, vom Konkubinat zum Patchwork« geradewegs auf den Steinigungsplatz zurasen würde, soll es nach dem Wunsch des Komitees endlich möglich sein, »sich selbst zu verkaufen und nicht seine Arbeitskraft«, in der »Vertrautheit des Dorfes« lassen wir uns »für alles, was wir sind, bezahlen«. Ich bin in einem Dorf aufgewachsen und kann das bestätigen. Fünf Mark gab es für Kinder, die dem Onkel im Kornfeld einen runterholten, hinter jeder Gardine lauerte ein Nachbar, und der Bauer erschoss meinen Hund. Deshalb wird kein Vorstadtjugendlicher den intellektuellen Romantikern aufs Land folgen. Schade, man möchte mal brennende Trecker sehen.
Dass Freilandhaltung dem Menschen gut bekommt, will das Komitee beim Tsunami beobachtet haben. Während die geschminkte Touristin in den Wellen umkam, »hasteten die Jäger und Sammler der Inseln den Vögeln hinterher und flohen von den Küsten«. Der Naturmensch riecht die Katastrophe, warnt die Touristin aber nicht. Noch schöner soll New Orleans gewesen sein, wo »Katrina« die Zivilisation vorübergehend beseitigte und so Raum schuf für »vergessene Formen« der »Selbstorganisation«, wie das »Feldlazarett«. Die Vergewaltigungen im Stadion sind Kollateralschäden auf dem Weg zurück in eine von Aufklärung und Industrie unbefleckte Epoche. Schnell soll das gehen. Die Kids dürften sich »mit Streiks oder Sabotageaktionen der Arbeiter« nicht aufhalten, sollten hastig »Kabel-« und »Kanalisationsnetze« angreifen, Eisenbahnstrecken und Computernetze »unbrauchbar machen« und eine »auf Leben und Tod verbundene Bande« bilden – »maskiert«, mit »Komplizenschaft«. Statt die Eisenbahn zu okkupieren und winterfest zu machen, um dann alle Menschen kostenlos reisen zu lassen, soll sie mit der Zivilisation verschwinden. Genauso die Demokratie, die »bei der Hervorbringung faschistischer Regime den Vorsitz geführt« habe (nicht Kapitalismus oder völkische Horden).
Die neue Kommune ist da, wo Opa noch das Sagen hat, der »Chibani« (alter arabischer Immigrant), der »weiser ist« als sonstwer, ihr Fundament sind die Verwandten. »Was es an Bedingungslosem in den Verwandtschaftsverhältnissen gibt, beabsichtigen wir zum Gerüst einer politischen Solidarität zu machen, die für staatliche Einmischung ebenso undurchdringlich ist wie ein Zigeunerlager.« Vielleicht sollte das Jugendamt doch einen Blick auf diese oder jene Familie werfen. Auf »Familienfesten« fühle man die Trauer, diesen Moment »der Sorglosigkeit angesichts einer Welt«, die »zusammenbricht«. Die Welt, in der man spielen durfte, weil die Eltern für einen sorgten und der Nachbar betonte, wie groß man schon sei, hat es – wenn kein Kinderschänder dabei war – in früher Kindheit gegeben. Sie bricht mit dem Tag der Einschulung zusammen und kommt nicht wieder.
Das Komitee mag nicht: willensstarke Frauen, aufgelöste Familienbindung, Pop, westliche Kultur. »Der Westen« sei ein GI, der auf Falluja zurase und »Hard Rock hört«. Man kann die Metapher wählen, aber warum kommen bei einem Aufstand gegen das globale Nichts 90 Prozent der Welt nicht vor? In China gibt es mobile Gaskammern, in Indien Mädchen-Tötung, in Russland Journalisten-Schießen, in Afrika Kindersoldaten, im Iran die Steinigung von Frauen. Doch das Komitee ist bestürzt über »die junge Frau« in der Großstadt, »die ihr Glück in Klamotten, Typen und Feuchtigkeitscremes sucht«, ihre »unangenehmen Attribute« seien »Wille, Selbstkontrolle, Gefühllosigkeit«. Eigener Wille statt Muttergefühl – das hat die Zivilisation aus der Frau gemacht! Vor allem die »abendländische Intelligenz«, die »alle Gewissheiten zerstört« und »natürliche Welten verwüstet« habe. Statt Natur gibt es Sex! Ekelhaft! »Dem Spanier ist die politische Freiheit scheißegal, seitdem man ihm die sexuelle Freiheit versprochen hat.« Mit Kolumbus hat er noch … Warum der Spanier? Vielleicht, weil Hunderte von Spaniern nicht grundlos auf dem Weg zur Arbeit in den Tod gesprengt worden sein sollen.
Wer hat den Westen so zugerichtet? Man hätte es ahnen können. Die Satzfolge lautet: »Die bewaffneten Kräfte passen sich der Metropole nicht nur an, sie gestalten sie. So machen sich die israelischen Soldaten seit der Schlacht von Nablus zu Innenarchitekten.« Aus dem Nichts taucht der Jude als Welt-Innenarchitekt auf. Der Jude »rückt senkrecht und waagerecht innerhalb der urbanen Konstruktion vor« und tut »den Feind überraschen … wie ein Wurm, der sich vorwärts bewegt, in dem er auffrisst, was er auf seinem Weg findet«. Das habe ein israelischer Offizier gesagt. Der Islam dagegen wird »stark« durch seine »Hilfen« in den von »Israels Armee zerstörten« Gebieten. Die EU spendet zehn Mal mehr, aber das Komitee fühlt das anders, und allein das zählt, denn »Wahrheit ist keine Ansicht über die Welt«, wahr sei das »Ereignis«, das wir fühlen, das uns erschüttert. »Wahrheit setzt mich zusammen und nimmt mich wieder auseinander« und setzt mich im Himmel wieder zusammen.
Die Kapitulation vor dem Seinsrauschen, die Martin Heidegger mit Blindheit schlug, als Marschkolonnen den Anstand zertraten, hat auch das Komitee beduselt. Alle »Okzidentalen« sind angesichts der »Brände« und der (dann wohl orientalischen) »Angreifer« nur »Leichen am Hals« der Bodenhaltung, die Zivilisation erleuchte »den Planeten mit Bordell-Licht« und verströme »Pestgestank«. Oder war es Schwefelgeruch? Wahrlich, ich sage euch, die »Entscheidung ist nahe«, bald wird es »Zerstörung ohne Geschwafel« auf Sodom und Gomorrha regnen, und dann kommt der Tatmensch. Er wird »Versammlungen verbieten«, dieses »Palaver«, und, wenn Entscheidungen bevorstehen, den Colt ziehen wie Tom Mix in einem B-Western.
Vergleiche mit linker Theorie sind absurd und vom Komitee nicht gewünscht. Lohnarbeit habe die Parteien des Kapitals und der Arbeit hervorgebracht, »wir aber haben die Feindseligkeit gegen diese Zivilisation«. Die »verwesende Linke« mache sich am Fortbestand der Zivilisation »mitschuldig«, weshalb man aus der Kluft zu ihr »einen Schützengraben machen« müsse. Kein Gedanke, dass die Überschussgesellschaft, anders verfügt und organisiert, Menschen aller Kontinente ernähren könnte. Während die soziale Revolution auf gute Lebensbedingungen der ausgebeuteten Klassen und der seit den Kolonialzeiten Ausgeplünderten dieser Welt setzt, erinnert der »Aufstand« des Komitees an Pol Pot oder die Amish People auf islamisch.
Der Begriff »Kommunismus« wird neu definiert als »Aufruf und Name für all die Welten, die gegen die imperiale Befriedung Widerstand leisten« – also auch die Taliban und die Hamas. Deshalb kennt der »Aufstand« auch keine »Zugehörigkeit zu einer Klasse, Rasse oder einem Wohnviertel«. Die behauptete Existenz von Rassen ist eine der vielen Entgleisungen. »Faschismus oder Anarchismus« (in einem Atemzug) trennten falsch zwischen »dem, was wir sind, was wir machen, und dem, was wir werden«. Diese Geschwätzigkeit durchzieht das ganze Buch. Was wir sind und werden, das ist auch fürs Komitee nicht dasselbe. Es fragt: »Wie ernährt man sich, wenn alles lahm gelegt ist?« und empfiehlt die »Kriegs-Landwirtschaft«. Es will »nie wieder arbeiten«, aber »die Nahrungsmittelkulturen der ländlichen Zonen wieder herstellen«, und das, obwohl »die Zukunft keine Zukunft hat« und »die Gegenwart ausweglos ist«. Unendliches Palaver!
Wer erfahren will, warum »die Katastrophe nicht das ist, was kommt, sondern das, was da ist« (und ein paar Schriften von Marx und der Frankfurter Schule kennt), wird sich nach zwei Buchseiten fragen, warum er lesen soll, was dümmer macht. Womöglich zur Zerstreuung, denn das Buch hat auch drollige Passagen, etwa die weinerliche Klage des Komitees, der »französische Schlager« habe ihm »die eigene Musik geraubt«. Ich will mit einem deutschen Schlager aushelfen. Auf der Zither gespielte Sonnenstrahlen fallen auf die Lichtung. Vögel zwitschern heiter, ein ekstatisches »Kuckuck! Kuckuck!«, dann sanfter Singsang: »Im grünen Wald … ein Försterhaus … Ein junges Mädel in den schönsten Jahren, die Försterliesel wurde sie genannt. Es war an einem schönen Sonntagmorgen, die Liesel schaut nach ihren Liebsten aus. Der Förster sah des Liebsten sein Gebaren, hat ihn erkannt: er war der wildernde Dieb! … der Wilddieb gab sein Wort (und) sprach: ›ich kann das Wildern lassen‹, und aus dem Walde wurd’ ein Märchenland und neues Leben blüht am Waldesrand« (»Die Heimatsänger«, 1953).