Ein Kontinent im jämmerlichen Zustand - Europa zerfällt in Kleinstaaterei und Fremdenhass
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„Egal, woher Sie stammen: Kommen Sie nicht nach Europa, riskieren Sie nicht ihr Leben ... Es ist alles vergebens.“ Mit diesem Appell wollte EU-Ratspräsident Donald Tusk Flüchtlinge abschrecken. Tatsächlich klärte er die Welt über den jämmerlichen Zustand Europas auf.
In Deutschland brennen Asylunterkünfte, wobei die Hilflosigkeit der Polizei an Beihilfe grenzt. In Dänemark gibt es das „Schmuckgesetz“, nach dem Flüchtlingen Werte über 1.000 Euro abzunehmen sind. Die Balkan-Staaten zäunen sich ein, die Briten drohen, das sinkende Schiff zu verlassen, nach Ungarn entwickelt auch Polen sich zu einem autoritären Staat, überall wächst die Zustimmung zu rechten, anti-europäischen Parteien mit offenen Flanken zum Faschismus.
Die EU war nie mehr als ein loses Bündnis von konkurrierenden Nationen, nun beseitigt eine Welle der Renationalisierung die Kooperation, die frühere Politikergenerationen nach 1945 aufgebaut und institutionalisiert haben. Dass Angela Merkel vorgeworfen wird, eine europäische Lösung anzustreben, statt eine nationale, markiert das Ende einer Epoche. Der Ökonom Jaques Attali, der mehrere französische Präsidenten beriet, ist überzeugt: „Wenn wir weitermachen wie jetzt, wird es vor Ende des Jahrhunderts einen neuen französisch-deutschen Krieg geben.“ Vermutlich werden vorher andere Kriege ausbrechen - zwischen Mazedonien und Griechenland, Zentralspanien und Katalonien, Belgien und Belgien ... Sollten jedoch der Front National (Le Pen) an die Macht kommen, der die deutsch-französische „Freundschaft“ zugunsten einer strategische Partnerschaft mit Russland beenden will, der Krieg in der Ukraine eskalieren, Polen die USA um Hilfe bitten, Mazedonien griechische Gebiete und Deutschland „seine“ Krim beanspruchen, müsste nur noch ein Serbe einen Thronfolger erschießen.
Momentan haben europäische Regierungen allerdings genug damit zu tun, ihre Staatsgebiete abzuriegeln, Armeen an die Grenzen zu verlegen, Fahrzeuge und Züge zu kontrollieren, Flüchtlinge zum Nachbarstaat oder ins Schlammloch bei Idomeni zu treiben und sich gegenseitig irgendwas anzudrohen. Wenn die Briten die EU verlassen, will Francoise Hollande die Flüchtlinge zu ihnen „durchwinken“ und den Briten „den freien Zugang zum Binnenmarkt versperren“. 44 Prozent der britischen Exporte gehen in die EU, 2.500 deutsche Firmen lassen auf der Insel produzieren, zum Beispiel BMW den Mini, ein Kapital von 100 Milliarden Euro floss 2014 von Deutschland nach Großbritannien (nur 30 nach Frankreich). Zur Kompensation der materiellen Einbußen müssten der rechte Londoner Bürgermeister Johnson, dem angeblich die Herzen der Briten zufliegen, und andere Anti-Europäer schon eine Menge fiktiver Werte aufbieten: Vaterland, Volk, Vertreibung. Der Witz ist, dass auch der Verbleib der Briten die EU de facto auflöst. Cameron handelte aus, dass die Kompetenz der EU in diesem Fall beschnitten und die Orientierung auf „gemeinsame Ziele“ und eine „engere Union der Völker Europas“ aufgehoben wird. Sollten die Briten sich gegen die EU entscheiden, wird man zwar über Zollerleichterungen verhandeln, aber wenn der Nationalismus erstmal in Schwung kommt, entfaltet er seine ganze sinnlose und bedrohliche Energie.
Die Visegrád-Staaten Polen, Ungarn, Tschechien und Slowakei bilden einen Pakt gegen Deutschland, etwa bei der Aufnahme von Flüchtlingen. Die Slowakei lässt nur Christen ins Land („Unsere Obergrenze ist Null“), Ungarn will Europa vor dem Ansturm der Fremden bewahren, wie wenn die Türken vor Budapest stünden; die tschechische Regierung will die griechischen Inseln „für Flüchtlinge aus ganz Europa“ annektieren; Polens Regierung will ihre Katholiken vor „Viren“ und „Krankheiten“ schützen, die Flüchtlinge einschleppen würden. Im Übrigen produzieren die Visegráds Kfz-Zubehör, Metallwaren und Nahrungsmittel für Deutschland. Polen strebt aber die wirtschaftliche und strategische Partnerschaft mit Großbritannien und den USA an.
Zerbrochen sind die deutsch-österreichische Freundschaft und die Koalition der Willigen, die auf eine Militarisierung der Außengrenzen mit Hilfe der Nato, auf die Türkei, die Beibehaltung offener Grenzen in Europa und eine „gerechte“ Verteilung von Flüchtlingen auf die EU-Länder gesetzt hatte. Österreich und die Balkan-Staaten haben ein Kartell gebildet, das die nationalen Grenzen verriegelt und Griechenland in ein Zwangslager für Flüchtlinge verwandeln will. Griechenland will „kein zweites Libanon“ werden und verweigerte Österreichs Innenministerin die Einreise, woraufhin Österreich Mazedonien Militärhilfe an der Grenze zu Griechenland anbot. Ein Hauch von Habsburg weht über den Balkan. Auch Bulgarien beordert seine Armee an die Grenze zu Griechenland.
Als andere europäische Regierungschefs die Balkan-Route ebenfalls für „geschlossen“ erklärten, widersprach Merkel: „Es kann nicht sein, dass irgendwas geschlossen wird“ und blieb bei der „nachhaltigen Lösung“ mit der Türkei. Die Türkei ist nicht billig zu haben. Sie fordert für die Internierung der Flüchtlinge mittlerweile sechs Milliarden Euro, Waffenlieferungen, EU-Beitrittsverhandlungen, freie Hand für den Krieg gegen Kurden und von ihr kontrollierte Zonen im Norden Syriens.
Wenn wir einen großen Bogen spannen, lässt sich sagen: Die Wirren in Europa, im Nahen Osten, in Nordafrika und in Asien künden vom Niedergang der 500-jährigen Weltherrschaft des „Westens“. Er reißt Lücken auf, in die Regionalmächte wie Saudi-Arabien und Iran, der IS, Scharia-Banden, Russland und China hineinstoßen. Demokratisch-emanzipatorische Auswege sind vorerst durch den Zusammenbruch linker Befreiungsvisionen versperrt. Die Flüchtlingswanderung spiegelt das wider. Sie ist überwiegend eine Folge von Kriegen, zum Teil aber auch das Ergebnis eines geistigen Wandels von der Revolution für eine bessere Welt zu der marktkonformen Resignation, die in die Reise in die vom Weltmarkt begünstigten Räume mündet.
Die traurigsten Bilder geben der islamisch-arabische Raum ab, der in seinen 30-jährigen Krieg hineingetaumelt ist, Russland, dessen von Putin gelenkter Oligarchenkapitalismus eine industrielle Moderne verhindert und durch seine Kriege sowie den Verfall der Rohstoffpreise abzustürzen droht, und eben Europa, das kein Wachstum generiert, jede Menge fauler Kredite in den Büchern hat und beim Anblick von Fremden in Angstzustände verfällt. Die ökonomische Krise hat in Europa den „Homing Instinct“ angeheizt, den Rückzug in den vermeintlich sichereren heimischen Hafen; das engstirnige Bewusstsein nimmt die Fremden nun als Bedrohung wahr, die von den Politikern vertrieben oder getötet werden sollen, sonst wittert es Verrat und ruft sich zum Volk aus. Das Fernsehen ist ihm zur Seite gesprungen, indem es grausige Gestalten als besorgte Bürger herumreicht und das Überforderungssyndrom erfand. Alle waren plötzlich überfordert, am heftigsten die, die noch nie einen Flüchtling zu Gesicht bekommen hatten.
Europa wird immer panischer und unwichtiger. Was im Nahen Osten und Nordafrika, in Asien oder sonstwo passiert, verhandeln die USA, Russland und China. Europas Außenpolitik erschöpft sich in der Suche nach Diktaturen, die bereit sind, gegen ein Entgelt Flüchtlingslager zu betreiben. Die Kritik des österreichischen Außenministers, ein vom türkischen oder algerischen Militär bewachtes Lager sei nicht humaner als das von Österreich bevorzugte Schlammlager vor Mazedonien, ist nicht von der Hand zu weisen. Beide handeln inhuman, der deutsche Weg ist aber ökonomisch wertvoller als die Beseitigung der innereuropäischen Grenzen. „Wer Schengen killt, wird im Endeffekt den Binnenmarkt zu Grabe tragen“ (Jean-Claude Juncker). Das ist wohl so.
In einer Epoche, in der das expansive europäische Kapital ein supranationales Staatsgebilde benötigt, das Barrieren beseitigt und Einflusssphären sichert, die Gesinnung aber zurückfällt in Nationalismus, Kleinstaaterei, Tribalismus und Fremdenhass, ist Angela Merkel das Mahnmal einer uneitlen, bürgerlich-kapitalistischen Vernunft. Merkel will Europas Außengrenzen schließen, die Innengrenzen offenhalten und die Tauglichen im Zuge einer kontrollierten Einwanderung nach Europa holen. Deshalb sagt sie Sätze wie: „Wenn ein großer Kontinent mit 500 Millionen Einwohnern einer Million Syrer Schutz gewährt, ist das nicht zu viel verlangt!“ Selbst fünf Millionen Einwanderer wären da nur ein einziges lächerliches Prozent. Dass Bayern und andere Deutsche sowie die Hälfte der Europäer Merkel wegen humanistischer und paneuropäischer Auffassungen stürzen wollen, kündet vom Verfall der europäischen Sitten.
Dagegen stehen die vier großen Kapitalverbände Deutschlands „im Streit um die Flüchtlingspolitik geschlossen hinter der Kanzlerin“. Merkel widersetze sich dem Populismus und ringe „um eine europäische Lösung“. Die Schweizer Großbank UBS, vom Financial Stability Board als systemisch bedeutsam eingestuft, sagt: Der Rückritt von Frau Merkel wäre „für die europäischen Märkte schlimmer als ein Brexit“. Der Hintergrund: Das Kapital benötigt offene Grenzen für die Just-in-time-Produktionskette, den Nachschub an jungen Menschen und das pünktliche Erscheinen der 1,7 Millionen Grenzgänger am Arbeisplatz. Die Prognos-AG rechnete zwei Szenarien durch. Im optimistischen Modell würde die EU durch innere Grenzkontrollen bis 2025 ein Bruttosozialprodukt von 470 Milliarden Euro verlieren, im pessimistischen Modell betrüge der Verlust 1,4 Billionen. Deutschland, Frankreich und Großbritannien hätten mehr als die Hälfte davon zu verkraften. Durch die offenen Grenzen konnte das europäische Kapital die Lagerhaltung auf Schienen und Straßen verlegen. Das spart Kosten, funktioniert aber nur, wenn die Güterzüge und Lastwagen Tag für Tag Rohstoffe, Halbfabrikate, Ersatzteile, Betriebsmittel und Waren aller Art pünktlich anliefern. Werden sie durch Kontrollen aufgehalten, steigen Produktionskosten und Warenpreise. Exporte und Konsum, Investitionen und Beschäftigung sinken, die europäische Wettbewerbskraft fiele gegenüber den USA und Asien um Jahrzehnte zurück.
Dem Kapital ist außerdem bewusst, dass Deutschlands Wirtschaft ohne die historischen Einwanderungswellen hinterm Mond wäre. Schon Brandenburg-Preußen wusste, was es an den Hugenotten hatte. Demografen gehen davon aus, dass Deutschland in 15 Jahren 7,5 Millionen Arbeitskräfte fehlen werden. Der Fremdenhass ist in erster Linie lebensgefährlich für die Flüchtlinge und in zweiter Linie im regressiven Sinn antikapitalistisch: antimodern und dumm. Der Kapitalismus kann sich heute keinen Faschismus leisten. Offen ist, ob er sich gegen den Wutbürger, der anderen Menschen das lebendige Leben, das er in sie projiziert, neidet, durchsetzen kann. Nach dem ZDF-„Politbarometer“ (Februar 2016) sprechen sich 58 Prozent der Deutschen – jeweils 50 Prozent der Sympathisanten der SPD, der Union und der Linkspartei - für nationale Grenzkontrollen aus, „auch wenn dadurch das Reisen und der Güterverkehr erschwert wird“. Die Gesinnung löst sich vom materiellen Wohl: Wenn doch die Politiker endlich die Fremden vertreiben oder an der Grenze erschießen würden ...
Veröffentlicht in „Konkret“ April 2016