Die multiple Krise

Deutschland ist Schlusslicht unter den führenden Wirtschaftsnationen. Der Rohstoffmangel, die hohen Energiepreise und weltpolitische Turbulenzen drohen, die bisherige Erfolgsstrategie des Wirtschaftsstandorts Deutschland zu durchkreuzen. Dennoch strebt Deutschland nach einer weltpolitischen Führungsrolle, um in den machtpolitischen Konkurrenzkämpfen zu bestehen. 

 

Wann hat es das schon mal gegeben: Deutschland ist der jüngsten Prognose des Internationalen Währungsfonds (IWF) zufolge das Schlusslicht unter den großen Industrienationen – wenn man von Russland absieht. Für das kommende Jahr sagt der IWF sogar einen Rückgang der deutschen Wirtschaftsleistung voraus. Damit das droht, musste der Kapitalismus schon alle Krisen auffahren, die er im Portefeuille hat: Stagnation in den Zentren, pandemiebedingte Lockdowns, zerrüttete Lieferketten, Inflation, Fachkräftemangel, Krieg, Sanktionen, Klimaschäden, Erdgasboykott und die astronomischen Energiepreise, die kein Übergangsphänomen, sondern Teil der „geopolitischen Neuausrichtung“ seien, wie der IWF warnt. Das in weiten Teilen wohlstandsverwöhnte Deutschland schlittert in eine Dauerkrise und wird nicht mehr im selben Maß zu den Globalisierungsgewinnern zählen wie bisher. 

   Dass Verteidigungsministerin Christine Lambrecht (SPD) Deutschland just in diesem Moment zur militärischen "Führungsmacht" küren will, klingt ambitioniert für einen ökonomischen Absteiger, ist aber verständlich. Denn die Geschichte der Nationalstaaten regrediert nach der neoliberalen Epoche, in welcher Handel und Investitionen weltweit expandierten, und der jetzt zu Ende gehenden Epoche der Renationalisierung mit ihren Sanktionen, Handelskriegen und protektionistischen Mitteln nun zu der Epoche der Schlachten um die Hegemonie und Einflusssphären. Bei dieser Neuordnung soll Deutschland als vollwertiger, also kriegsfähiger, Imperialist mitmachen können.

    Es brennt überall. Während der russische Präsident Wladimir Putin immer mehr Truppen in die Ukraine sendet, um die Zehntausenden getöteten oder verwundeten Soldaten zu ersetzen, fiel Aserbaidschan über Armenien her und gerieten Tadschikistan und Kirgistan aneinander. China will Taiwan okkupieren, das unter dem Schutz der USA steht, Präsident Recep Tayyip Erdoğan will eine „kulturelle Nähe“ der Türken zum „asiatischen Kontinent“ entdeckt haben und droht Griechenland an: „Wir könnten zweifellos mitten in der Nacht kommen.“ Für den Gasabsatz, aber auch für die Schwächung der Nato bietet Putin ihm an, mehr Gas über die Turkstream-Pipeline zu senden, um die Türkei zur Drehscheibe für russisches Gas zu machen. 

       Die von Kanzler Olaf Scholz (SPD) in seiner Comic-Sprache als "Wumms"und "Doppel-Wumms" verniedlichten Milliarden für die militärische Aufrüstung und die Verhinderung wirtschaftlicher Zusammenbrüche und sozialer Turbulenzen (die Zahl der Firmenpleiten lag im September 34 Prozent über dem Vorjahresmonat) zeigen an, dass der rohstoffarme deutsche Kapitalismus es in dieser Krise schwer hat, sich aus eigener Kraft zu reproduzieren und genug Konsum für die Bevölkerung abzuwerfen. Besonders alarmierend ist, dass die 200 Milliarden Euro des letzten Hilfspakets de facto an das gasliefernde Ausland durchgereicht werden. Deutschland verschuldet sich bis über beide Ohren für die Bereicherung der Gaslieferanten aus den USA, Norwegen, Aserbaidschan und anderen Ländern.   

     Exogene und endogene Krisenursachen sind auseinanderzuhalten. Der westliche Kapitalismus ist nicht verantwortlich für Putins Kriege und Putin macht wiederum nicht die Gaspreise. Dafür ist der Kapitalismus verantwortlich. Der Krieg und der Lieferstopp zwingen die Verkäufer in den USA und Norwegenund die Zwischenhändler keineswegs, die Gaspreise bei konstant gebliebenen Produktionskosten um 500 bis 1 000 Prozent im Vergleich zum Vorjahresmonat zu erhöhen. Polens Ministerpräsident Mateusz Morawiecki klagte: Polen zahle an Norwegen „vier- oder fünfmal mehr als vor einem Jahr. Das ist doch krank“. Der CEO des norwegischen Staatskonzerns Equinor, Anders Opedal, berief sich im Juli darauf, dass Russlands Invasion nun einmal „eine Energiekrise mit hohen Preisen geschaffen" habe. Das Dogma von den Preisen, die durch Angebot und Nachfrage ermittelt würden, verleiht dem Raubzug der Lieferanten einen Anschein von Unvermeidbarkeit und anonymisiert die Täter. 

    Noch konfuser wird es bei Lebensmitteln. Da steigen die Preise, während die Nachfrage durch die Verarmung der Menschen sinkt. Niemand würde Equinor daran hindern, Länder zum alten Preis mit Gas zu versorgen. Der Krieg und die Marktdogmen bieten Nationen und mit ihnen verbundenen Konzernen, die über Rohstoffe verfügen, nur die Chance, andere auszuplündern. 

     Deutschland darf sich nicht beklagen. Es nutzte jahrelang seinen Wettbewerbsvorteil durch die hohe Arbeitsproduktivität, die militärische Enthaltsamkeit und die billigen Brennstoffe aus Russland, um über den Export Produktion und Beschäftigung aus dem Ausland zu importieren. An Deutschlands Verhältnis zu anderen EU-Staaten ist ablesbar, dass gemeinsame Sicherheitsinteressen nicht die ökonomische Konkurrenz aufheben. Ärmere Staaten kritisieren, dass Deutschland im Alleingang mit staatlicher Förderung Gas eingekauft und seine Wirtschaft subventioniert hat, statt sich an Lösungen auf EU-Ebene zu beteiligen. Spanien will Deutschland Gas liefern, aber Frankreich, das stattdessen lieber das EU-Stromnetz ausbauen will, weil das Land Strom in großem Maßstab auch zum Heizen verwendet, verweigert die Durchleitung. Jetzt bohren die Nationen in ihren Gewässern so fieberhaft nach Erdgas, wie es einst bei den Prospektoren des US-amerikanischen Öl-Fiebers zu beobachten war. Die britische Regierung genehmigte 100 Bohrungen in der Nordsee, das Wirtschaftsministerium Robert Habecks (Grüne) verhandelt mit den Niederlanden über die Ausbeutung gemeinsamer Gasvorkommen, die FDP und Teile der CDU wollen das Fracking in Deutschland erlauben. CO2-Emissionen spielen in der Krise keine Rolle.  

Krisenmerkmale

Hohe Energiekosten, die Staatsschulden, die Aufrüstung und die Inflation verschärfen die seit Jahrzehnten schwelende Krise der alten Industriezentren, in denen sich der aufgetürmte Kapitalberg nur noch schwach vermehren ließ. Niedrige Wachstums- und Investitionsraten sowie Kapitalflucht nach Asien waren die Folge. Europa und die USA sind bemüht, die Kapitalansiedlung im Zentrum durch staatliche Fördermittel und die Revitalisierung der Profitrate wieder attraktiver zu machen, was bei den öl- und gasreichen USA derzeit erfolgreicher funktioniert. Eine tiefgreifende Modernisierung soll neue Felder der Mehrwertproduktion erschließen, um die stagnierenden Akkumulationsraten des Kapitals auf Trab zu bringen: Big Data, Digitalisierung, Künstliche Intelligenz, E-Mobilität, erneuerbare Energie, Energiefabriken auf dem Land und in Meeren, Ausstieg aus der fossilen Epoche.  

    Die Reaktionen auf die Energiepreiskrise behindern diese Modernisierung jedoch in mehrerer Hinsicht. Man kehrt zur Braunkohle zurück, die Kosten der Aufrüstung mindern die öffentlichen Mittel für die Modernisierung der Produktion, steigern den unproduktiven Anteil an der Gesamtproduktion, und die Verschuldungspolitik schafft Liquidität und Umsatz, saniert aber nicht die durchschnittliche Profitrate. Die EU macht seit der Euro-Krise die Erfahrung, dass eine Ausweitung der Geldmenge durch die Zentralbanken kein Wachstum erzeugt. Es kommt hinzu, dass Staaten, die sich verschulden, um unprofitable Sektoren am Leben zu halten (profitable sind darauf nicht angewiesen), sich die Mittel für die Schuldentilgung später aus profitablen Sektoren (unprofitablehaben nichts) holen müssen, und so Werte in unprofitable Sektoren umgeschichtet werden, was den Abstieg des jeweiligen Wirtschaftsraumes befördert. Der Kapitalismus saniert die Profitrate dadurch, dass marode Sektoren ausgemerzt werden und der „ideelle Gesamtkapitalist“ Mittel in die profitablen Sektoren lenkt, Löhne und die Fonds für Sozialtransfers plündert oder im Ausland geschöpften Mehrwert in heimischen Profit verwandelt.     

     Der Versuch, die heimische Produktion wieder attraktiv zu machen, um die Kapitalflucht zu stoppen, fällt mit einer geopolitischen Neuorientierung zusammen. Die USA und die EU wollen ihre Abhängigkeit von China reduzieren. Die G7-Staaten haben auf ihrem letzten Treffen unter anderem beschlossen, Chinas weltweiter Expansion ein 600 Milliarden US-Dollar großes Programm für Investitionen in die Infrastruktur entgegenzusetzen. Die US-Regierungdiskutiert bereits über das friend-shoring – also Warenaustausch und Investitionen nur unter Freunden, eine Anspielung auf das reshoring genannte Zurückverlegen von Industrieproduktion in das Land der Konzernzentrale –,stoßen aber die „Freunde“ gleichzeitig vor den Kopf. Nicht nur mit hohen Gaspreisen: Die USA locken ausländische Firmen mit derart hohen Fördermitteln an, dass Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck eine „heftige Wettbewerbsverzerrung gegenüber dem europäischen Markt“ beklagt. Der im August verabschiedete Inflation Reduction Act (IRA) enthält etwa neben Entlastungen für US-Bürger auch Subventionen für den US-Industriestandort, beispielsweise Zuschüsse für den Kauf von E-Autos, wenn diese in Nordamerika gebaut wurden. Für die USA ist China ein strategischer Rivale, die „größte Herausforderung für die internationale Ordnung“, trotz der russischen Kriege, sagt Außenminister Antony Blinken. Deutschland und die EU wollen eher verhindern, dass sich ihr Russland-Debakel mit China wiederholt. Außerdem suchen viele Unternehmen wegen der Lieferkettenprobleme und der Angst vor einem Krieg in Asien nach Standorten außerhalb Chinas. 

     Die Entkopplung von China ist kompliziert und wird keinesfalls kurzfristig zu schaffen sein, weil die Abhängigkeit des Westens von China ungleich komplexer ist als die von Russland. Deutschland kauft aus keinem Land so viel Zeug wie aus China. 2021 waren es Maschinen und Computer, Küchengeräte, Spielzeug und andere Waren im Wert von 142,4 Milliarden Euro. Die chinesische Billigproduktion hat dem Westen ein Konsumniveau erlaubt, das ein rein heimisch ansässiger Kapitalismus nicht hätte bieten können. Andererseits begünstigt die Angst vor dem großen Krieg in Asien inzwischen die umgekehrte Kapitalflucht. Taiwan sucht Standorte in Europa und in den USA, weil es einen Teil seines Kapitals vor chinesischen Angriffen in Sicherheit bringen will. Der taiwanesische Konzern TSMC beabsichtigt den Bau einer Halbleiterfabrik im Großraum Dresden. 

    Die Bewältigung der Lieferkettenprobleme ist ein weiteres Motiv für die Ansiedlung in der Nähe des Zentrums. Kriege, Unwetter, Anschläge und pandemiebedingte Lockdowns stören immer häufiger die Just-in-Time-Produktion. Der Chipmangel in der Autoindustrie durch den chinesischen Lockdown und der Stau der Containerschiffe im Suez-Kanal waren Signale. Der Kostenvorteil durch die Ausgliederung der Lagerhaltung auf Schiffe und LKW geht verloren, wenn die Produkte nicht rechtzeitig oder gar nicht ankommen; steigende Transportpreise tun ein Übriges. Es bietet sich an, kapitalintensive Betriebe in der Heimat anzusiedeln und die Massenfertigung in Asien zu lassen, weil die EU-Länder mit den niedrigen Löhnen und Auflagen in Fernost nicht konkurrieren können. Deutschland sucht auch in Asien eine Alternative zu China. Indonesien mit seinen großen Nickelvorräten biete der deutschen Autoindustrie eine „komplette Lieferkette“ von der Nickelschmelze über die Batteriefertigung bis zum fertigen E-Mobil an, berichtete das Handelsblatt. Das Land verfügt über billige Arbeitskräfte und viele Rohstoffe.  

    Zwischen den westlichen Staaten tobt der Konkurrenzkampf, aber die Sicherheitsinteressen und das gemeinsame Ziel, militärische Erfolge des Putin-Regimes zu verhindern, um die Stellung des Westens als Ordnungsmacht zu behalten, aggressive Nationen abzuschrecken und die Ukraine in das westliche Bündnis integrieren zu können, schweißt zusammen. Die westlichen Waffen versetzen die Ukraine in die Lage, sich zu verteidigen, die Sanktionen schwächen Russland langfristig. Es ist unübersehbar, dass Russland selbst zu seinem Niedergang beiträgt – durch den sinnlosen Krieg, die Umstellung auf Kriegswirtschaft und die Mobilmachung, die oft gut ausgebildete Menschen zu Hunderttausenden in die Flucht treibt und existenzbedrohende politische Zentrifugalkräfte freisetzt. Mit seinen nuklearen Drohungen macht Putin Russland zum Paria der Welt, droht selbst ihm wohlgesonnene Staaten zu verschrecken und zwingt die Nato, ein Luftabwehrsystem in Europa zu installieren, das russische Atomraketen abfangen soll.   

Bewusstsein und Ideologie

Man freut sich über den Aufstand im Iran und über Erfolge des ukrainischen Widerstands, während bei uns ein paar Tausend Querköpfe hinter dem Transparent „Frieden mit Putin“ herlaufen. Unter dieser Losung bilden Faschisten, der Wagenknecht-Flügel der Linkspartei und Angstbürger eine zwiespältige Volksgemeinschaft. Wer Ukrainern und Ukrainerinnen empfiehlt, sich Putin zu unterwerfen, wird, wenn es für ihn ähnlich kommen sollte, auch den eigenen Führer besänftigen wollen und danach einen Platz in der Mitläuferkartei beantragen. Die AfD spricht nicht nur halbe oder ganze Faschisten an, sondern auch marktradikale Geister, deren Philosophie „fressen und gefressen werden“ nicht weit vom faschistischen Denken entfernt ist. Der eine regelt die Selektion identitär, der andere mit Geld.  

     Die Linkspartei ist politisch und theoretisch derart paralysiert, dass sie keine Kraft nach außen entfalten kann. Sie vereint prowestliche und antiamerikanische Gesinnungen, ihre Mitglieder sind für Israel oder den palästinensischen Antisemitismus, für Welthandel oder nationale Borniertheit, für Kapitalismus (Marktwirtschaft steht im Programm) oder Sozialismus, für Menschenrechte oder Diktaturen (Russland, China, Syrien, Venezuela), für offene oder geschlossene Grenzen, für die Kritik der Verhältnisse oder die reaktionäre Wagenknecht-Ideologie, jene Mischung aus Keynes, Sarrazin, Putin und Deutschtümelei. Die Grünen fallen ohnehin aus. Robert Habecks geplatzte Gasumlage, mit der die privaten Haushalte im Stile früherer Kriegsanleihen für die hohen Energiekosten aufkommen sollten, schreckte keinen Grünen, sondern nur die Unternehmer, die den Schwund der Konsumnachfrage und die endgültige Karstadt-Pleite befürchteten.  

     Aufklärung ist heute fast so schwer wie in Zeiten der Kriegskredite vor dem Ersten Weltkrieg. Die Suggestion, dass wir gemeinsam Opfer der Krise und des russischen Angriffs seien, und der Fakt, dass Menschenleben in der Ukraine tatsächlich durch die Lieferung von Luftabwehrraketen zu retten sind, lähmen. Das ändert aber nichts daran, dass der Kapitalismus ein destruktives System ist und bleibt. Sein Profit wird in diktatorisch organisierten Betrieben geschaffen und durch Preistreiberei in Geld verwandelt, er saniert sich durch die laufende Selektion nach den Kriterien stark oder schwach, er greift in der Krise nach den Ersparnissen und Sozialtransfers, Waffen sind für ihn ein Geschäft, egal an wen sie geliefert werden, Kriege stören ihn nur, wenn Lieferungen ausfallen. 

Der Ökonom Wilhelm Hankel, ein rechter Keynesianer, schrieb einmal: „Aus jedem Blutbad geht der Kapitalismus gestärkt hervor (...) Am Ende wird das Zerstörte wieder aufgebaut (…), Einkommen geschaffen, und es stellt sich je nach der Dimension der Katastrophe ein größeres oder kleineres Wirtschaftswunder ein.“ So wie Unternehmen wie BASF, Agfa und Bayer, die den Konzern IG-Farben, dem Zyklon-B-Lieferanten für die Gaskammern, mitgegründet hatten, nach 1945 als runderneuerte und viel größere Konzerne als zuvor weitermachten. Die Menschen sind zu fragen, ob sie diesen Kreislauf immer wieder durchlaufen wollen.

Veröffentlicht in „Jungle World“ Nr. 42, 20.10.22