Die große Mutation
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Über den EU-Gipfel 2020, die deutsche Wandlung vom Zuchtmeister der EU zum Onkel mit dem Geldkoffer, über die europäische Weltmachtambition, über die Krise und Moral
Die größte Überraschung, die der Sondergipfel der Europäischen Union (EU) im Juli unter deutscher Ratspräsidentschaft zu bieten hatte, war weder die Schuldenunion noch das Finanzvolumen, sondern die deutsche Wandlung vom Zuchtmeister der EU zum reichen Onkel mit dem Geldkoffer, vom bösen Imperialisten zum Schutzpatron der Enterbten. Bundeskanzlerin Angela Merkel wurde in der Euro-Krise noch als Wiedergängerin Hitlers karikiert; damals hatten sie und ihr damaliger Finanzminister Wolfgang Schäuble (beide CDU) unnachgiebig darauf bestanden, Kredite nur unter strengen Auflagen zu vergeben. Das Ziel war die Umgestaltung der ganzen EU in ein Profitcenter, dessen Staaten deutsche Warenexporte aus eigener Wertschöpfung bezahlen können und nicht auf Alimente der reichen Staaten angewiesen sind.Wegen der Schwere der pandemiebedingten Krise, die alle Krisen seit 1945 in den Schatten stellt, und des Zusammenhalts der EU entschied die Bundesregierung, diesmal alles anders zu machen. Sie setzte sich gemeinsam mit Frankreich und der EU-Kommission dafür ein, den Ländern der EU einen nicht rückzahlbaren Zuschuss von 500 Milliarden Euro und eine Bürgschaft für weitere 250 Milliarden anzubieten. Zudem plädierte sie für die Metamorphose der EU zu einer Transfer-, Schulden- und Haftungsunion, die sie vor Monaten noch strikt ausgeschlossen hatte.
Krise und Weltmachtambition
Der Vizekanzler und Finanzminister Olaf Scholz (SPD) erklärte den Paradigmenwechsel so: „Wir müssen uns auf eine Welt vorbereiten, die komplett anders ist als eine, die wir in den letzten Jahrzehnten (…) kennengelernt haben.“ Deutschland werde nur gemeinsam mit der EU eine Rolle in der Welt spielen können. Der französische Präsident Emmanuel Macron bestätigte diese Auffassung. Gemeinsame Finanzen seien die Voraussetzung, „um eine geopolitische Macht zu werden“ und „den Euro wirklich als eine internationale Währung zu konsolidieren“. Marcel Fratzscher, der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), betrachtet den beim Sondergipfel beschlossenen EU-Wiederaufbaufonds als „sehr gut“ investiertes Geld, weil er „mehr Nachfrage nach deutschen Exporten, mehr wirtschaftliche Dynamik in Europa im Vergleich zu China und den USA“ bedeute. Eine Haftungsunion gewährleiste, dass „aus einer bipolaren eine tripolare Weltordnung wird“, in der die EU „einen festen Platz“ neben den USA und China einnehmen werde.
Ganz so schnell wird man nicht Weltmacht. Die EU ist nicht nur ein Bündnis konkurrierender Nationen, sondern auch eines mit differierenden Werten. Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán, der Diktator in den eigenen Reihen, verbittet sich, dass „der Westen“ seine Ansichten „dem Osten“ aufzwingt. Das klingt nach verschiedenen Welten, deren eine, die demokratische, sich nicht in die sogenannten inneren Angelegenheiten der anderen, der autokratischen, einmischen soll. Immer drängender stellt sich die Frage, ob ein Staatenbündnis mit solchen Gegensätzen und 27 nationalen Vetorechten jemals ein wirtschaftlich, politisch und militärisch wettbewerbsfähiges Imperium werden kann. Der auf dem Sondergipfel gefundene Kompromiss ist vor allem nicht Ausdruck einer Liebe zur Tripolarität, sondern das Resultat einer Notlage. In einer solchen befinden sich nicht nur die südeuropäischen Staaten. Im Mai 2020 exportierte Deutschland 29 Prozent weniger in die übrige EU als im Vorjahresmonat, im Juni nahm der Staat 19 Prozent weniger Steuern als im Vorjahresmonat ein. Deutschland ist extrem abhängig von einer funktionierenden EU. Seine Wirtschaft produziert zur Hälfte für den Export und von diesem gehen knapp 60 Prozent in die EU. Deutschland überwies 2018 netto 13,4 Milliarden Euro an die EU, EU-Staaten kauften aber für 780 Milliarden deutsche Waren.
Dann kam der Coronacrash, den der Kapitalismus für die fällige Bereinigung seiner Kapitalstruktur nutzte. Ob die Ursache eine Überakkumulation von Kapital oder eine Pandemie ist, die Krisenerscheinungen gleichen sich. Die Kapitalakkumulation sinkt, marodes Kapital wird ausgemerzt, Waren liegen auf Halde, Maschinen (etwa Flugzeuge) stehen ungenutzt herum, die Arbeitslosigkeit steigt oder staut sich in staatlich bezahlter Kurzarbeit, die Steuereinnahmen erodieren. Wer nicht mithalten kann oder so unrentabel gewirtschaftet hat, dass er keine Reserven aufbauen konnte, geht baden, ob Fluggesellschaft oder Restaurant. Wegen der Kreditausfälle könnte sich eine Bankenkrise anschließen. Die Prognosen sind finster. Nach Schätzungen der EU-Kommission werden die Nationaleinkommen der EU 2020 um mehr als acht Prozent sinken. Sie wird demzufolge ein Marktvolumen von 1.200 Milliarden Euro verlieren. Die EU hat neben der Krise einen Strukturwandel zu bewältigen. Im Zuge der Modernisierungen (Klimaschutz, Digitalisierung, E-Mobilität) verliert dingliches Kapital seinen Wert nicht nur durch physisches Altern (Verschleiß), sondern immer stärker auch dadurch, dass es im Wettbewerb mit neuem Kapital frühzeitig „veraltet“. Schon eine leichtere, langlebigere Batterie aus China kann das Kapital diverser Zulieferindustrien für Benzinkarossen entwerten. Die E-Mobilität ersetzt die alte Brumm-Brumm-Erotik durch die Erotik der ansatzlosen Beschleunigung ohne Gestank und Motorengeräusch. Man fährt Auto und lauscht dem Wind und dem Vogelgezwitscher. „Spüre die elektrisierende Performance“, lautet ein Werbeslogan von VW. Bei der nachhaltigen Ökonomie gehe es nicht um Moral, sagt Philipp Hildebrand vom Investmentkonzern Blackrock, sondern um „Rendite und Widerstandskraft der Wirtschaft“. Die „Kapitalumschichtung findet massiv statt. Klimarisiken sind Investitionsrisiken. Das außer Acht zu lassen, kostet Rendite. So einfach ist das.“ Zumal das neue Kapital die Wirtschaft nicht nur besser gegen Klimarisiken wappnet, sondern auch Arbeitskräfte einspart. Die EU hat im IT-Sektor den Anschluss verpasst, ihre Chancen liegen bei der Entwicklung einer umweltverträglichen Produktion und Mobilität. Und genau dazu hat der Gipfel nicht den geringsten Beitrag geleistet.
Die Europaabgeordnete Ska Keller von den Grünen, die für die ökologische Modernisierung des Kapitalismus zuständig sind, beklagt sich über „die Staats- und Regierungschefs, die sich über Klimaziele und den Recovery Fund streiten und am Schluss das Klima hinten runterfallen lassen“. Der CSU-Politiker und Fraktionsvorsitzende der Europäischen Volkspartei, Manfred Weber, kritisiert, dass 90 Prozent der 750 Milliarden direkt in die Haushalte der Staaten fließen und nur zehn Prozent einen gewissen Spielraum für innovative Projekte hergeben würden. Das war kaum anders zu erwarten. Die Regierungen haben riesige Summen in die Wirtschaft, ins Gesundheitssystem und in die Versorgung der Arbeitslosen gebuttert, gleichzeitig brechen ihnen die Steuereinnahmen weg. Italien etwa nahm 160 Milliarden Euro zusätzliche Schulden auf. In dieser Situation brauchen die Staaten jeden Cent, um Haushaltslöcher zu stopfen. Außerdem sind die großen Summen, die durch die Medien schwirren, zu relativieren. Von 750 Milliarden sind nur 390 Milliarden Zuschüsse, 360 Milliarden sind Bürgschaften für Kredite, die kaum abgefragt werden dürften, weil die Länder sich nicht höher verschulden wollen. Der EU-Haushalt von 1.074 Milliarden Euro für sieben Jahre hört sich gewaltig an, das sind aber nur 150 Milliarden im Jahr für 27 Staaten. Bleiben im Durchschnitt nur etwa 5,6 Milliarden pro Jahr und Staat übrig. Davon sind 70 Prozent für die Agrarindustrie und Regionalförderung reserviert.
Im Weltgefüge ist tatsächlich vieles anders. Die USA und China ringen um die Weltherrschaft. Nationalismus, Protektionismus und Handelskriege gewinnen an Fahrt. Westliche Staatenbündnisse zerfallen. In der EU mutieren Demokratien zu Diktaturen und ob US-Präsident Donald Trump eine Wahlniederlage akzeptiert oder die Diktatur ausruft, ist offen. In einer Epoche, in der China Meere und Inseln besetzt und die USA zwei Flugzeugträger in die Region schicken, türkische und griechische Kriegsschiffe vor Zypern fast aufeinander gefeuert hätten, Russland Konflikte sucht, um sein Großmachtimage zu pflegen, und die USA deutschen Firmen, die an dem Pipelineprojekt Nord Stream 2 beteiligt sind, den „vollständigen Ausschluss vom US-Markt“ androhen, wirken die besorgten, mahnenden und moralisierenden Worte, mit denen der deutsche Außenminister darauf regelmäßig reagiert, lächerlich. Eine Außenpolitik ohne Drohpotential beeindruckt niemanden, und wer andere ermahnt und zu Hause Ungarn finanziert, gewinnt nicht an Glaubwürdigkeit. Scholz weist zu Recht darauf hin, dass Deutschland auf die EU angewiesen ist. Deutschland benötigt die EU als Abnehmerin seiner Waren, als Standort von Produktionsstätten und als ökonomisches Gewicht für Handelsabkommen. Außerdem ist Deutschland militärisch ohne Frankreich, Italien und die Niederlande ein Leichtgewicht. Langsam setzt sich in den führenden Nationen des Staatenbündnisses die Erkenntnis durch, dass die transatlantische Partnerschaft der Vergangenheit angehört und eine EU, die im Streit der Großmächte wettbewerbsfähig sein will, auf eigenen Beinen stehen muss. Also sprach Merkel bei ihrer Antrittsrede als Vorsitzende des Rates der Europäischen Union von der „größten Bewährungsprobe in der Geschichte der Europäischen Union“. Da „alle verwundbar“ seien, sei die gegenseitige Hilfe nicht nur eine humane Geste, sondern vor allem auch eine „nachhaltige Investition“ in die globale Rolle der EU. Daraus folgt, dass Nationalisten, die groß denken, ihren Patriotismus auf die EU übertragen müssen.
Mit Geld lässt sich keine Ethik kaufen
Der Kapitalismus in der EU hat einen strukturellen Fehler. Länder mit hoher Produktivität und niedrigen Lohnstückkosten konkurrieren ungebremst mit unterlegenen Ländern, ohne nationale Ausgleichsmechanismen. Die Exportüberschüsse zeigen an, dass die produktiveren Staaten anderen Produktion, Mehrwert, Einkommen und Steuern rauben. In der Coronakrise kommt hinzu, dass Geldübertragungen durch den Tourismus und Wanderarbeiter ausbleiben. Die wachsende Disparität schlägt auf die reichen Staaten zurück: Die Konzentration von Kapital behindert die Ausdehnung der Märkte und der Kapitalakkumulation, sie entleert die Peripherien, deren Mehrwertproduktion zurückgeht, die wiederum Voraussetzung für die Realisierung der Exportgewinne ist. Die Importeure sind immer mehr auf Kredite der reichen Exportländer angewiesen. Die Diskrepanz lässt sich durch keynesianische Geldprogramme nicht überlisten. Sie kann nur durch die Steigerung der Arbeitsproduktivität (Wertproduktion) in den unterlegenen Staaten oder durch eine nachlassende Effektivität in den überlegenen Staaten aufgehoben werden. Die Geldmengen können Haushaltslöcher stopfen und Nachfrage schaffen, sie verbessern aber nicht die Profitabilität der Ökonomie. Ein Unternehmen, das mit Verlust produziert, steigert mit dem Umsatz auch seine Verluste. Da die permanenten Geldzuwendungen am Ende aus den Überschusssektoren zu refinanzieren sind (andere haben nichts), schaffen sie eine Umschichtung von Werten aus rentablen Zonen in unrentable und schwächen langfristig den ganzen Wirtschaftsraum. Die von Schäuble einst empfohlene Umschichtung von Werten aus dem sozialstaatlichen Bereich in den Profit schafft ebenfalls keine Steigerung der Profitabilität, dafür aber großen Unmut.
Die Dimension des Zusammenbruchs befeuert die ohnehin vorhandene politische Haltung, dass die Reaktivierung der Kapitalakkumulation wichtiger sei als demokratische Prinzipien. In Krisen werden ethische Kategorien mehr denn je als Luxus wahrgenommen. Deshalb geriet die sonst unterkühlt wirkende Merkel aus der Fassung, als ein niederländischer Diplomat empfahl, Geldgeschenke an rechtsstaatliche Auflagen zu knüpfen, um die Entwicklung zu Autokratien aufzuhalten. Er fragte, ob man Polen, „das wiederholt gegen die Rechtsstaatlichkeit verstoßen hat, in der Migrationskrise nicht kooperiert, sich nicht zu den Klimazielen bekennt und schwulen- und lesbenfreie Zonen kreieren will, mit den dritthöchsten Hilfen“ beschenken sollte. Merkel, die gern betont, dass es ihr als Mädchen aus der DDR besonders auf den Rechtsstaat ankäme, giftete ihn an. „Damit man Fonds mit einem rechtsstaatlichen Ausgeben verbinden kann, braucht man erst einmal Fonds“, schimpfte sie, es käme darauf an, „dass wir am 1. Januar 2021 nicht vor dem Nichts stehen und gerade noch Agrarpolitik (…) machen können“. Am „Morgenthau-Plan“ prallt jedes Argument ab. Peter Altmaier (CDU) variierte die These, dass Ökonomie vor Demokratie geht: „Es war immer die Politik der westlichen Staatengemeinschaft, auch der EU, dass internationale Handelsbeziehungen nicht allein daran ausgerichtet werden können, wie demokratisch ein Land ist.“ Die Aussage bezog sich auf China, trifft aber auf die EU noch mehr zu, weil sie über eine Charta verfügt, die zur Demokratie verpflichtet und Diskriminierungen unter anderem „wegen der ethnischen Herkunft“ oder „der sexuellen Ausrichtung“ untersagt. Die Diskriminierung von Roma, Schwulen, Juden und Regierungskritikern ist in Ungarn und Polen Staatsdoktrin. Der Gipfel verzichtete darauf, die Zuwendungen an die Einhaltung der Menschenrechte zu binden. So konnte Orbán den Beschluss als Sieg von Ungarn und Polen feiern, denen es „nicht nur gelungen“ sei, „sich ernsthafte Geldsummen zu sichern, sondern auch, ihren nationalen Stolz zu verteidigen“. Der Zwang, die EU zusammenzuhalten, hat zur Folge, dass nicht die Rechtsstaaten gegen faschistische Tendenzen in Europa vorgehen, sondern die EU umgekehrt durch Rechtspopulisten erpressbar geworden ist. Die „Bild“-Zeitung erkannte das und titelte: „Warum die Kanzlerin einen Pakt mit Erzfeind Orbán wollte.“ Dass das von der Pandemie einigermaßen verschont gebliebene Polen überproportional mit Geld bedacht wird, hat damit zu tun, dass in der EU Konflikte traditionell sozusagen weggekauft werden. Polen bindet sich wie andere südosteuropäische Staaten geschäftlich immer mehr an China, fordert andererseits US-amerikanisches Militär an und setzt sich im Sinne der USA für den Ausstieg aus dem Pipelineprojekt Nord Stream 2 ein. Polen ist ein Wackelkandidat, der mit Geld integriert werden soll.
Wie beim Urknall
Die EU ist gleichermaßen vom Trend zur Vereinheitlichung wie vom Zerfall geprägt. Sie wird einerseits zu einer Notgemeinschaft zusammengetrieben mit Regularien, wie sie üblicherweise Nationen vorbehalten sind. Die gemeinsame Verschuldung, die Transferleistungen und die Gemeinschaftshaftung sind Elemente einer neuen Einheit, die eventuell durch eigene Einnahmen (CO2-Zölle, Plastiksteuer) ergänzt werden. Andererseits driftet die EU wirtschaftlich, gesellschaftspolitisch und ethisch immer weiter auseinander. Sie wird nationalistischer, in Teilen faschistisch, Herzenseuropäer sucht man vergebens. Eine EU der gemeinsamen Werte existiert nicht, so oft sie auch beschworen wird. Ein kaum lösbares Problem liegt darin, dass die Harmonisierung der Produktivität, der Einkommen, der Steuern und der kulturellen Welten, die Bedingung für eine Nationenbildung wäre, im Grunde bereits eine handlungsfähige Nation voraussetzte.
Die Union wird von diversen Zentrifugalkräften in alle Himmelsrichtungen gezerrt. Alte Risse werden tiefer, neue kommen dazu. Konflikte zwischen Nord und Süd, Demokratie und Diktatur, Weltmachtambition und Renationalisierung, kulturelle Divergenzen zwischen westlichen und einigen östlichen Staaten (in Deutschland feiern schwule Paare Hochzeit, in Polen haben sich rund 100 Städte und Kommunen zu „LGBT-freien Zonen“ erklärt). Irgendwann wird die EU explodieren und wie nach einem Urknall neue Planeten bilden. Die Briten sind der Entwicklung vorausgeeilt. Neben dem deutsch-französischen Machtzentrum, auf das sich 50 Prozent der EU-Wirtschaftsleistung konzentriert, haben sich kleinere Allianzen gebildet. Die konservativ-liberalen „sparsamen Vier“, Niederlande, Österreich, Dänemark und Schweden (zeitweise verstärkt durch Finnland), verstehen sich als „historische Kooperation“ (so der österreichische Bundeskanzler Sebastian Kurz), die sich von Deutschland emanzipieren will, indem sie die rigide Finanzpolitik fortsetzt, die Deutschland eben erst aufgegeben hat. Wegen ihrer produktiven Ökonomien empfinden sie sich als bessere Gesellschaften, ihre Repräsentanten werden entsprechend anmaßend; der niederländische Ministerpräsident Mark Rutte etwa meinte, er müsse das – im Vergleich zu den Niederlanden – wirtschaftlich zweieinhalb Mal so große und industriell viel stärkere Italien dauerhaft kontrollieren, damit Geld nicht „versandet“. Die „Sparsamen“ wollen aber die Vorteile der EU behalten, die Großbritannien sukzessive einbüßt.
Weiter weg von der übrigen EU ist die reaktionär-faschistische Visegrád-Gruppe, zu der Ungarn, Polen, die Tschechische und die Slowakische Republik gehören. Dieser Gruppe ist die Ideologie wichtiger als die Ökonomie – zumindest solange die eigenen Taschen voll sind. Orbán nahm das Geld der EU mit und ging zum Angriff auf die Demokratien des Westens und im Kern auch auf die EU über. Die Visegrád-Gruppe werde in Zukunft dafür sorgen, dass der Westen seine Denkweisen nicht mehr den „freiheitskämpferischen Völkern“ im Osten aufzwingen könne. „Völker“ konstituiert für Orbán, wie bei den Nationalsozialisten, „die biologische Fortpflanzung einer nationalen Gemeinschaft“. Polen gleitet in den katholischen Despotismus ab. In der Slowakei regieren vier Parteien, von denen drei rechtspopulistisch beziehungsweise faschistisch sind. Eine Regierungspartei ist Mitglied der EU-Parlamentsfraktion „Identität und Demokratie“, die von Matteo Salvini (Lega) und Marine Le Pen (Rassemblement National) angeführt wird. Die Visegrád-Staaten exportieren zwar das Gros ihrer Waren nach Deutschland, aber rechte Ideologien nehmen oft keine Rücksicht auf wirtschaftliche Entwicklungen. Wohin Italien steuert, ist offen. Das rechte Bündnis aus Lega, den Faschisten von Fratelli d’Italia und Forza Italia liegt in Umfragen bei 48 Prozent. Daneben hat Senator Gianluigi Paragone, früher Mitglied der Fünf-Sterne-Bewegung, die Partei Italexit gegründet und predigt unermüdlich, der Zusammenbruch der EU sei nahe. Sollte dieser Haufen die nächsten Wahlen gewinnen und Italien die EU verlassen, wäre diese ein kaum noch handlungsfähiger Torso.
Die politischen Verfechter einer Werteunion müssen damit klarkommen, dass Orbán sich dafür feiern lässt, dass die EU ihn von der Einhaltung dieser Werte entbunden habe. Nicht ganz zu Unrecht, kommentierte das Handelsblatt: „Beim EU-Gipfel blieb der Rechtsstaat auf der Strecke“ und Spiegel-Onlinemeinte: „EU lässt ihre Autokraten davonkommen.“ Allerdings nicht ohne einen Formelkompromiss, denn der Rat „unterstreicht ferner die Bedeutung, die der Achtung der Rechtsstaatlichkeit zukommt“. Das muss genügen. Denn bei Verstößen, die längst zum Alltag gehören, wird der bekannte Mechanismus in Gang gesetzt, der zu nichts führt. Die Kommission darf „Maßnahmen vorschlagen“ und mit dem Ministerrat besprechen und sie dann dem Rat vorlegen, der beschließen wird, was er schon beschlossen hat - die Achtung vor dem Rechtsstaat. Die Würde des Menschen ist eben unantastbar. Auf die Anmerkung der „FAZ“, dass über die Verknüpfung von Geld und Rechtsstaatlichkeit gerade jeder erzähle, was er wolle, antwortete der Präsident des Europäischen Rates, Charles Michel: „Es besteht noch keine vollständige Klarheit über das Verfahren.“ Das EU-Parlament gerät unter einen immensen Anpassungsdruck. Die nationalen Parlamente haben das Recht, das Abkommen zu ratifizieren oder abzulehnen, das Europaparlament darf nur über Nachbesserungen debattieren. Wenn es sich gegen den Gipfelbeschluss auflehnte, würde es sich gegen die Entscheidung von 27 gewählten EU-Regierungen und gegen die eigenen Parteien in den nationalen Parlamenten stellen sowie die Handlungsfähigkeit der EU in ihrer tiefsten Krise in Frage stellen. Außerdem haben die Grundwerte bei den Geldzuteilungen nie eine Rolle gespielt und warten rechte Parteien nur auf eine Blockade der Auszahlung, um China oder Russland als wahre Brüder anzupreisen.
Entscheidend ist die Erkenntnis, dass im Gegensatz zu der proklamierten Werteunion die Missachtung rechtsstaatlicher Werte die Grundvoraussetzung der europäischen Einheit bildet. Ohne diese Missachtung gäbe es die EU in ihrer heutigen Form nicht mehr, dann wären Ungarn, Polen und andere längst aus der EU geflogen. Die Werte sind für den Werbeprospekt, den EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen auswendig aufsagen kann. „Mit dem, was wir heute investieren, sichern wir nicht nur das, was wir in 70 Jahren aufgebaut haben, sondern bahnen auch den Weg für eine klimaneutrale, digitale, gerechte und international starke Union. Dies ist die Stunde Europas!“ Davon stimmt gar nichts. Die für den Übergang zu erneuerbaren Energien vorgesehenen Mittel wurden gekürzt, die „gerechte Union“ ist in Ungarn und Polen zu beobachten, die „starke Union“ bricht an allen Ecken auseinander. Aber egal wofür der normierte Politiker heutzutage wirbt, er wird immer behaupten, es sei gut fürs Klima.
Veröffentlicht in Jungle World 06.08.2020