Der Wahn sitzt tief - Warum "Fundamentalismus" oft ein reaktionärer Kampfbegriff ist
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Boris Palmer, der grüne Oberbürgermeister von Tübingen, hätte kein Problem mit der Rettung einer in Seenot geratenen Krabbenkutterbesatzung nordischer Herkunft oder mit der Evakuierung schwäbischer Rentnerinnen von einem sinkenden Kreuzfahrtschiff. Menschen, die er indogermanischen Stämmen zuordnen kann, erträgt er ganz gut. Aber keine Araber und Afrikaner. Denn er fühlt sich durch „arabische oder schwarze Männer ... an den Rand gedrängt“, und er bangt um das blonde Erbgut. Palmer erzählt gern die Geschichte vom grün wählenden Professor, der ihm seine Ängste gebeichtet hat: „Ich habe zwei blonde Töchter, ich sorge mich, wenn jetzt 60 arabische Männer in 200 Meter Entfernung wohnen." Auch Björn Höcke (AfD) muss immer von der „Vergewaltigung der blonden Frau“ durch den „afrikanischen Ausbreitungstyp“ träumen. Das deutsche Mädel ist blond und der fremde Mann omnipotent. So stand es schon im Naziblatt „Der Stürmer“. Laut der Kriminalstatistik sind zwar „Gewalttaten gegen das Leben“ rückläufig, und die größten Gefahren für Leib und Leben gehen ohnehin von der eigenen Familie aus. Die Fakten helfen Leuten wie Palmer und Höcke aber nicht, zu tief sitzen die Wahnbilder.
Mit Bedacht gewählt
Palmer will also bestimmte Menschen nicht in Europa haben. Und genau da beginnt der auf rassistischen Wahnvorstellungen beruhende Fremdenhass, der ihn wiederum dazu verleitet, humanistische SeenotretterInnen als „Menschenrechtsfundamentalisten“ anzufeinden. Palmer sagt, er habe mit diesem Begriff nur zum Ausdruck bringen wollen, dass die Rettung von Flüchtlingen „aus Seenot kein automatisches Ticket nach Europa" sein dürfe, „da dies rechte, antieuropäische Parteien stärken“ würde. Wird die AfD durch das Nachbeten ihrer Parolen geschwächt? Schrumpft der Faschismus durch die Verbreitung seiner Propaganda? Nein, Palmer will nur seine Unbarmherzigkeit in eine gute Tat verwandeln, um nicht als Rassist überführt zu werden. Er weiß sehr genau: Wer Flüchtlingen auf Hoher See das Ticket nach Europa verweigert, nimmt ihnen das Recht auf Asyl und überlässt sie der Sklaverei in Libyen oder dem Tod in den Fluten oder in der Wüste. Denn Amerika und Asien sind weit weg, und in islamischen Diktaturen und Kriegswirren gibt es kein Menschenrecht.
Der Begriff „Menschenrechtsfundamentalismus“ ist von Palmer mit Bedacht gewählt. FundamentalistInnen gelten als böse, ganz gleich, was sie fundamental vertreten. Wer mehr Autonomie und Lebensfreude, Liebe, Tanz, Musik, Solidarität, Freizeit und Freiheit anstrebt, wird das herrschende System fundamental kritisieren – und dafür als Fundamentalist beschimpft werden. Der Islamist, der jeden Ausdruck von Lebensfreude mit dem Tod bestrafen will, wird den Westen für das Gegenteil fundamental kritisieren. Und es gehört zu den Spezialitäten des Bürgertums, durch die Projektion auf andere den eigenen Fundamentalismus auszublenden. Die BürgerInnen, die fundamentalradikal für die Betriebsdiktatur (sonst läuft der Laden nicht!) und das Marktsystem eintreten, obwohl dieses in permanenter Konkurrenz Sieger und Verlierer unter Staaten, Unternehmen und Individuen selektiert, halten sich selber für tolerant. Wie etwa die HonoratiorInnen der Stadt Aachen, die jedes Jahr den Karlspreis an herausragende EuropäerInnen vergeben, obwohl Karl der Große ein fundamentaler Christ und Massenmörder („Sachsenschlächter“) war, der alle „Europäer“ vor die Wahl gestellt hatte: „Taufe oder Tod?“. Weil er OsteuropäerInnen versklavte, bezeichnet die Völkerkunde sie heute noch als Slawen (Sklaven). Der Historiker Hartmut Lehmann sagt vor dem Hintergrund all dessen zu Recht: „Bisher ist offen, ob der Begriff Fundamentalismus zu mehr taugt als zur Polemik.“
Die Koordinaten verschieben
Wenn Palmer von „Menschenrechtsfundamentalismus“ spricht, verschiebt er die politischen Koordinaten. In der Gründerzeit der Grünen musste man noch Kommunistin oder Radikalökologe sein, um als Fundamentalist gebrandmarkt zu werden. Damals wurden systemoppositionelle Grüne als „Fundis“ gegeißelt, weil sie sich weigerten, das drittgrößte Wirtschaftsimperium der Welt zu dessen Bedingungen regierend zu verwalten. Heute genügt Leuten wie Palmer schon der Einsatz fürs Menschenrecht, mit dem das Bürgertum üblicherweise für sein Gesellschaftsmodell zu werben pflegt. Oder muss man sagen: zu werben pflegte? RealpolitikerInnen, die in phantasielosem Respekt vor dem Status Quo alles der Kapitalexpansion und Herrschaftsmoral unterordneten, wurden hingegen von sich selbst und vom Bürgertum gelobt. Wer regiert, wird nicht gegen sich selbst opponieren und demzufolge die Kraft für die Veränderung der Verhältnisse einbüßen.
Der Staat und ihm verpflichtete Institutionen nehmen die ordnungspolitische Aufgabe wahr, gesellschaftliche Konflikte einzufangen und staatlicher Regelung zuzuführen, um das Ausbruchspotential zu eliminieren. Gestattet ist allein die Opposition, die im Parlament auf den Regierungsruf wartet, und das Basteln von systemkonformen Alternativen. Die FAZ lobt die Chefin der Bremer Linkspartei: „Kristina Vogt ließ ihre Partei so viel wie möglich über Sachfragen debattieren, um die weltfremden Flausen allmählich aus den Köpfen der Mitglieder zu vertreiben.“ Damit die GenossInnen nicht auf dumme fundamentalistische Gedanken kommen, hat sie mit ihnen Brücken repariert. Der Kapitalismus erhält sich durch Herrschaftsideologien, aber mehr noch durch sich selbst. „Wes Brot ich ess, des Lied ich sing!“, sagen die Leute, während sie im Hamsterrad rennen und gegen eigensinnige Individuen wüten, weil jene sie mit ihrer bereitwilligen Unterwerfung konfrontieren, die keine Freude macht. Und da permanente Existenzängste und Entbehrungen Aggressionen erzeugen, die nicht im Widerstand ausgelebt werden sollen, werden neben einer leidlichen konsumtiven Befriedigung propagandistische Surrogate angeboten: Hass auf Juden, Migrantinnen, „faule“ Arbeitslose, Fundamentaloppositionelle, konkurrierende Nationen,...
Druck auf die Abtrünnigen
Der Mensch erträgt seine Willfährigkeit besser, wenn ihm von allen Seiten bestätigt wird, dass sein blödes Treiben im Laufrad vernünftiger Realismus sei. Demgegenüber werden kritische Leute mit Begriffen wie „Fundamentalisten“, „notorische Neinsager“, „brotlose Weltverbesserer“ etc. in die Nähe von psychisch Erkrankten gerückt. Das hilft bei der falschen Selbstvergewisserung und übt Druck auf die Abtrünnigen aus. Zur Ironie der Geschichte gehört, dass Palmers Besessenheit mittlerweile dysfunktional fürs Kapital ist. Die Wirtschaftsverbände sehen in der Einwanderung die Chance, den Fachkräftemangel zu beheben und die Sozialsysteme zu retten. Wie nach dem Zweiten Weltkrieg, als nicht Ludwig Erhard das Wirtschaftswunder schuf, sondern 13 Millionen Flüchtlinge und Vertriebene aus dem Osten zusätzliche Werte erwirtschafteten. RassistInnen ist die Erkenntnis versperrt, dass MigrantInnen Werte schaffen. Ihr Kanon, dass Menschen verschiedener Herkunft nicht gut zusammenleben können, stört inzwischen die Wirtschaft und ist Wasser auf die Mühlen der „identitären“ FaschistInnen, deren Vision auf ethnische ‚Säuberung‘ hinausläuft.
Der Konzern R+V-Versicherungen untersucht regelmäßig die Angstzustände der Deutschen, um sie dagegen zu versichern. Nach der letzten Studie hatten Deutsche zum ersten Mal mehr Angst vor Fremden als vor Krebs und Arbeitslosigkeit. Lieber tot als einem Fremden zu begegnen! Nach den Niederlagen und Deformationen von historischen Befreiungsvisionen fehlt heute das Korrektiv, das den Misthaufen an nationalen, ethnischen, männerkultigen, religiösen, heimatbündlerischen, rassistischen und faschistischen Wahnbildern bremsen kann. Und so wird die Epoche der Klassenkämpfe, in denen es um die Verbesserung der Lebensverhältnisse, um erfahrbare Solidarität und Humanismus ging, verdrängt durch eine Epoche der falschen Identitäten: Heimat, Volk, Vaterland, Abendland. Palmer ist ein fundamentalistischer Agitator dieser Deformation. Wer arabische oder schwarze Männer als Gefahr für sich und blonde Frauen indiziert, bestärkt Menschen, die für Verschwörungen und Vorurteile empfänglich sind, in ihrem Wahn (wenn sogar der grüne Oberbürgermeister sagt, dass unsere Kultur bedroht ist) und wirbt ähnlich wie die identitären Faschisten für den gesäuberten Volkskörper.
Veröffentlicht in iz3w, Nov./Dez. 2019