Dein Feind: der Sozialschmarotzer

Peter Sloterdijk möchte die Sozialsysteme abschaffen, Guido Westerwelle bewertet die Hartz-IV-Reformen als Einladung zu spätrömischer Dekadenz. Dass die Unterschichten des Müßiggangs verdächtigt werden, hat eine lange Tradition.

Der Erwerbstätige hat ein schweres Los. Er wird jeden Morgen vom Wecker geweckt und hat auf dem Weg zur Arbeit nur einen Gedanken: »Wann ist endlich Feierabend?« Er will den Tag nicht gelebt haben. Dazu die quälende Vorstellung, dass Arbeitslose sich gerade der Wollust hingeben, Kaffee, Zeitung, Radio, Philosophieren, Spielen, ein Buch, in der Sonne Liegen … Genug! Kaum hatte Guido Westerwelle (FDP) die spätrömische Dekadenz angeprangert, legte die Bild-Zeitung gegen »Hartz-IV-Abzocker« los. »Sind sie wirklich so arm?« Natürlich nicht, weil sie nebenher fünf Wohnungen untervermieten. »Bin ich dumm, wenn ich noch arbeite?« Die Antwort kann dir keiner abnehmen. »28 Prozent sind Migranten!« Aufgepasst, Deutscher, dein Nachbar könnte ein »Sozialschmarotzer« sein! Nach Studien des Bielefelder Soziologen Wilhelm Heitmeyer (»Deutsche Zustände«) gibt es derzeit gegen keine Gruppe so viele Vorbehalte wie gegen Langzeitarbeitslose.

Dass 72 Prozent der Bevölkerung Arbeitslose zur Arbeit zwingen wollen und fast 40 Prozent der Linkswähler Westerwelle zustimmen, spiegelt die Entbehrung wider. Man erträgt nicht, dass jemand »Lohn« bezieht, ohne zu arbeiten, also das erreicht hat, wovon alle träumen. Der Jude soll sogar ohne Arbeit »reich« geworden sein, hieß es.

Medien, Politiker, Schädelmesser, die ganze Versammlung politischer Ideologen lässt kein gutes Haar an Arbeitslosen. Im Prinzip geht das seit 3 000 Jahren so. In »Werke und Tage« schreibt Hesiod, der Dichter bäuerlichen Lebens: »Der ist den Göttern und Menschen verhasst, der ohne zu wirken hinlebt; gleicht er doch den faulnichtsnutzigen Drohnen.«

Die Ökonomie basierte auch 700 Jahre vor Christus schon auf dem Diebstahl von Arbeitszeit. Das eitle Leben der Adligen hing davon ab, was die Geknechteten für sie pflanzten und werkten. Aristoteles merkte zynisch an, mit Bauern lasse sich gut Demokratie machen, denn »weil sie arm sind und arbeiten müssen, haben sie kaum die Muße, an Versammlungen teilzunehmen«. Die Herrschaften waren also Schmarotzer, und ihr Einfall, Unterschichten des Müßiggangs zu verdächtigen, ist einfach genial.

Über »unsere« Germanen wusste Caesar zu berichten: »Raubzüge außerhalb der Stammesgrenzen … betrachten sie nicht als Schande. Sie vertreten den Standpunkt, dass sie erfolgen, um die Jugend zu üben und vom Müßiggang abzuhalten.« Die Jugend von der Straße holen, würde man heute sagen. (Hitler richtete ein Arbeitsdienstjahr ein; da gab es Milchsuppe und Kameradschaft). Paulus schrieb an die Thessalonicher: »So jemand nicht will arbeiten, der soll auch nicht essen.« Und Martin Luther erfand so etwas wie den Mehrwert: »Dass der Herr mehr Güter hat denn sein Knecht, und doch der Knecht mehr arbeiten muss denn der Herr, … das will Gott also haben.« Damit wurde Ausbeutung ein göttliches Gebot.

Die Bild-Kampagne fiel noch glimpflich aus, ganz ohne Sterilisation. Als der Spiegel ein »Heer von Abzockern und Sozialbetrügern« ausgemacht hatte, schrieb er: »Biologen verwenden für Organismen, die zeitweise auf Kosten anderer leben, die Bezeichnung Parasiten«. Das seien Wesen, die »durch Nahrungsentzug Krankheiten« hervorriefen. Auch für die Nazis waren »Asoziale, die der Allgemeinheit zur Last fallen«, Parasiten und Sozialschmarotzer, bis man sie zwangssterilisierte und internierte. Der Philosoph Peter Sloterdijk will die Sozialsysteme durch eine Kultur des Schenkens ersetzen, die Entscheidung über Leben und Tod mithin den Launen der Mäzene überlassen. Um 1800 richtete der Elberfelder Bürgermeister eine »Armenanstalt« ein, die von freiwilligen Zahlungen der Bürger unterhalten werden sollte. Der Plan scheiterte, weil die Spenden ausblieben. Er musste zur Armensteuer zurückkehren.

Die FAZ schrieb kürzlich: Die Wirtschaft brauche »arbeitende Menschen, aber nur die Unterschicht vermehrt sich«. Professor Gunnar Heinsohn sollte helfen. Der mokierte sich über die »Vergreisung«, hohe Sozialkosten und besonders darüber, dass der Staat »mit viel Geld nicht verhindert, dass die Unterschicht wächst«. Eine vergreisende Gesellschaft müsste doch nehmen, was kommt? Nein! Die Armen sollen sich nicht vermehren und aus dem Ausland sollen keine »Niedrigleister« kommen, denn deren »Nachwuchs schleppt die Bildungsschwäche weiter«. Der Nation fehlten vielmehr Kinder »der hoch besteuerten Karrierefrau«. Hat die eine bessere Erbmasse? Heinsohn schlägt jedenfalls vor, Sozialleistungen wie in den USA auf fünf Jahre im Leben zu begrenzen, dann würden »Frauen der Unterschicht Geburtenkontrolle« betreiben. Ja, wenn der Hungertod droht … Klassenhygiene ist das schon, aber auch Rassenhygiene? Gegen »Vietnamesen« und »russische Juden« hätte er nichts einzuwenden, weil deren »Kinder bessere Abiturnoten schaffen« als die deutscher Bildungsbürger. Aber wenn die Noten sich verschlechtern, ist der Jude vielleicht doch nur Jude.

So wie Schamanen aus Tierkadavern und Nazis aus dem Blut lasen, wird heute aus Genen und Gehirnen gelesen. Das Ergebnis steht vorher fest: Wer Steuern zahlt, hat gutes Erbmaterial, wer arm ist, dem fehlt das Fleiß-Gen. Und im Hirn ist er auf Schwarzfahren programmiert, denn »das Böse ist ein biologisches Phänomen« (Spiegel), der Mensch verfüge »nicht über einen freien Willen«, er werde »von Neuronen gesteuert«. Da waren die Schädelmesser aber schon weiter.

Die Gruppe der Armen ist heute übrigens ein Hort der Intelligenz. Armut basiert nach einer Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) in erster Linie auf der Zahl von Studenten und Singles, auf fleißigen Leuten, die für Löhne unter Hartz-IV-Niveau arbeiten, und Haushalten mit mehreren Kindern. Das DIW betont ausdrücklich, dass »die Bildung zu höheren Armutszahlen« führe. Natürlich geht es manchen Arbeitslosen nicht gut. Zum einen definieren sie ihren Wert über die Nachfrage nach ihnen, zum anderen ist das Geld so knapp, dass »schwarze« Einnahmequellen lebenswichtig sind, und das kann stressen.

Erwerbstätige sollen auch ihre Verbitterung an Arbeitslosen abreagieren, aber in Wahrheit geht es um alles. In der Debatte über die Einführung der Arbeitslosenversicherung sagte der Sozial­experte Georg Adler im Jahr 1884: »Der Gedanke, dass Müßiggang etwas Schönes sei, soll nicht an Boden gewinnen, und deshalb darf die Unterstützung nur das Existenzminimum gewähren; der Arbeiter, der bei voller Gesundheit untätig ist, soll Entsagung üben.« Die Demütigung der Arbeitslosen ist also ein gesellschaftliches Erziehungsmodell zur Disziplinierung aller Erwerbstätigen. Sie sollen sich täglich sagen: Da möchte ich nie hin, lieber unterwerfe ich mich allen Bedingungen. Aus diesem Grund werden ständig schlampige Arbeitslose im Fernsehen vorgeführt. Es wäre leicht, besoffene Buchhalter oder Werbetexter aufzutreiben, noch leichter Arbeitslose, die über Kunst, Literatur, Lust- und Realitätsprinzip philosophieren. Aber das würde keiner verstehen, außerdem sollen die Schaffenden glauben, dass Arbeitslosigkeit blöde macht und nicht ihre Arbeit. Diese Fiktion ist für den Hamster im Laufrad ­genauso wichtig wie die Bestrafung Arbeitsloser durch Geldentzug, Arbeitszwang und Pranger.

Die Arbeit hat den Homo sapiens vorangebracht, aber spätestens seit der Industrialisierung wird auch ihr Anteil an der Dummwerdung des Menschen reflektiert. Arbeit mache »stumpfsinnig und einfältig« (Adam Smith), konfisziere alle »geistige Tätigkeit« (Friedrich Engels), schaffe »Paläste«, aber auch »Blödsinn, Kretinismus für den Arbeiter« (Karl Marx). Wie sollte der »Kretin« das Zeug zum revolutionären Subjekt erwerben? Man wertete ihn auf durch die Herabstufung der Arbeitslosen zum »Lumpenproletariat«, aber wirkliche Erleuchtung traute Marx seinem Subjekt dann doch nur in arbeitsloser Zeit zu. Die »disposable time« sei »Mußezeit«, »Zeit für höhere Tätigkeit« und Entfaltung »des Genusses« und daher »die Bedingung der Emanzipation«. Aber der Mythos, dass nur Kapital vermehrende Wesen Wert haben, war so vorherrschend, dass Engels Arbeitslosen nicht einmal »Hartz IV« geben wollte. Er wetterte auf dem Erfurter Parteitag 1890: »Es kann nicht Aufgabe der Sozialdemokratie sein, das Simulantentum zu fördern«. Das »Lumpenproletariat« würde sich »auf Kosten des arbeitenden Teils« durchfressen, das Proletariat erschlaffe, würde »aufhören, eine revolutionäre Klasse zu sein«. Es solle gefälligst jede Arbeit annehmen. Die SPD könnte sich auf Engels berufen, wenn Oskar Lafontaine ihr wieder mal vorwirft, sie habe mit »Hartz IV« ihre Tradition aufgegeben.

Die Kommunisten riefen dann die Verdammten dieser Erde auf, Müßiggänger auszuschließen, statt Muße für alle zu fordern, der Volksmund feierte mit »Müßiggang ist aller Laster Anfang« seine eigene Versklavung. Und Kinder archivierten den Fluch in Poesiealben: »Sei deiner Eltern Freude, beglücke sie mit Fleiß, dann erntest du im Alter dafür den höchsten Preis. Dein Onkel H.« – »Zwei Lebensstützen brechen nie, Gebet und Arbeit heißen sie. Dein Schulkamerad A.« – »Jedem seine Not nicht klagen, sich in Glück und Unglück schicken, ist eins der größten Meisterstücken. Deine Handarbeitslehrerin«. Wo hat man je tadellosere Anleitungen für ein neurotisches Leben gefunden? Wenn du mal verzweifelt bist, häkele dir einen Topflappen.

Die Produktionsverhältnisse beeinflussen das Denken, und so grübelt der Philosoph über die effektivere Selektion nach, und der Volksmund findet: »Jeder ist sich selbst der Nächste.« Das Marktgesetz, die laufende Selektion nach Stark und Schwach unter Firmen, Staaten und Individuen, hat sich tief in die Köpfe gepflanzt. Arbeitslose, Kranke und Rentner bekommen auf Schritt und Tritt vermittelt, dass sie für das System »Kosten« sind. Kein Fernsehtalk, der die, die keinen Wert schaffen und trotzdem ernährt werden wollen, nicht als Belastung des Gemeinwesens behandelt. Wer seinen Selbstwert behaupten will, muss schon das ganze System zum Teufel wünschen, denn immanent ist am Ende nur der Sieg des Produktiven über das Unproduktive wahr.

In der EU nimmt Griechenland derzeit den Part des »Schmarotzers« ein. Alles, was an dem Land verlockend schien, fliegt ihm heute um die Ohren. Es war so herrlich unproduktiv, lag in der Sonne und gab sich den Freuden des Lebens hin. Heute ist dies alles Betrug am Euro, an der EU und am Hegemon Deutschland. Die deutsche Reaktion ist unverschämt. Deutschland ist der Hauptprofiteur des Euro. Seine Produktivität, die unter anderem auf der Stagnation der Löhne beruht, darf sich ungehindert austoben. Deutschland darf sich über Exporte fremde Mehrwertproduktion aneignen, während andere Länder ihre schwächere Produktivität nicht durch Währungsabwertungen auffangen können. Aber wie das so ist mit infantilen Kraftprotzen – sie verlieren die Selbstkontrolle, wollen nun gleich zurück zu »Bismarck« (Bild), wollen den Griechen die »Party« (Stern) austreiben. Dass ein Immobilien-Makler im FDP-Gewand nach den Inseln schielt, liegt nahe. Dass Deutschland alle undisziplinierten Staaten aus der Eurozone hinauswerfen will, weckt die Vorstellung, »dass die Deutschen nach zwei misslungenen militärischen Versuchen die gemeinsame Währung nutzen könnten, um Europa zu beherrschen« (Süddeutsche Zeitung). Bei der Geschwindigkeit, mit der China, Indien, sogenannte Tigerstaaten und Brasilien expandieren, könnte es für Deutschland ratsam sein, mit den Bewohnern seines Vorgartens lieber mal Wein zu trinken, statt mit der Finanz-Gestapo anzurücken.

Wir stehen am Anfang einer Epoche, in der den Massen gewaltige krisenbedingte Wertverluste aufgebürdet werden sollen. Die Staatsschuld ist riesig, und der Kapitalberg in Europa erzielt keine hohen Profit- und Wachstumsraten mehr. Vermutlich wird das Abwälzen in Deutschland kaum auf Widerstände stoßen. Die ökonomischen Zwänge treffen auf einen eklatanten Bewusstseinsschwund. In drei Jahrzehnten mutierte die Kritik am System vom politischen Anspruch auf das Ganze zum mikropolitischen Anspruch auf die korrekte Verpackungsaufschrift. Was mit dem Kommunitarismus begann, setzt sich fort in der Armenspeisung, die zugleich ausloten soll, ob das Sozialsystem nicht ganz auf Naturalien umgestellt werden könnte. Das würde den Kapitalismus ex­trem entlasten. Um diesen Prozess zu forcieren, ruft die EU 2011 zum Jahr der Freiwilligkeit aus.

Früher war nicht alles besser, aber die Identifikation wuchs eher mit steigendem Lohn, heute wächst sie mit sinkendem Lohn. Das Chef-Motto lautet: »Wieso verlangst du Geld? Wir geben dir doch Gelegenheit, deinem Hobby nachzugehen.« Der Praktikant bedankt sich und fühlt sich dem Manager nahe, weil beide den Werbefilm für ein Stück Seife ziemlich kreativ finden und sich in der »Reha« begegnen könnten. Der Kapitalismus beseitigt gleichzeitig Marxens »Bedingung der Emanzipation«, indem er die »disposable time« in Beschlag nimmt – durch die Erfassung der Menschen als Top-Konsumenten und durch die Ausdehnung des Arbeitstages. Zwei Drittel der Beschäftigten müssen heute per Handy und PC für Kunden und Vorgesetzte immer erreichbar sein. Dazu fördert die technisch bedingte Entleerung der Arbeit – intelligente Systeme erzählen nicht nur dem Auto, wo es hin soll – die Austauschbarkeit der Menschen und damit ihre Entwertung. Millionen werden nur noch ausgeliehen.

Emanzipation beginnt mit der Rückkehr zum Anspruch auf das Ganze, mit der Erkenntnis, dass das System nicht deshalb Kritik verdient, weil es zu wenige Arbeitsplätze bereitstellt, sondern weil es die mannigfaltigen Fähigkeiten und Bedürfnisse der Menschen abtötet. Insofern liegt in der pathischen Projektion des Erwerbstätigen, wie genussvoll der Arbeitslose den Tag verbringe, das subtile Fundament der Befreiung. Er müsste nur noch die Zwänge beseitigen und die vom Sockel stürzen, die ihm den Weg versperren, statt seine »wutgetränkte Apathie« (Heitmeyer) an Langzeitarbeitslosen auszulassen, die ihm nichts tun.

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