Coaching statt Peitsche
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Der Trainings- und Beratungsmarkt boomt wie kein anderer. Das liegt an der weit fortgeschrittenen gesellschaftlichen Resignation.
Coaching stammt von Coach (Kutsche) und bedeutete ursprünglich, dass der Kutscher mit der Peitsche in der Hand Pferde auf Trab bringt und lenkt. Heute versteht man darunter den gesamten Trainings- und Beratungsmarkt, in dem die Peitsche durch Motivation ersetzt wird. Der Markt boomt wie kein anderer, weil die gesellschaftliche Resignation so weit fortgeschritten ist, dass Menschen glauben, ohne Hilfe von Experten nicht mehr essen, laufen, springen, denken, lachen, arbeiten und einkaufen zu können und keine Lebenspartner zu finden. Weitere Antriebe wurzeln in der Angst, von der Norm abzuweichen und die Sozialkassen zu belasten, und in der Entfremdung von der Natur. Viele Menschen können sich der Natur nur noch auf Trimmpfaden nähern. Sie genießen sie nicht, sie bewältigen sie. Wie der Marathonläufer, der sich 30 Kilometer die Galle aus dem Leib kotzt, dann aufs Pflaster stürzt und den Pflegern vom Roten Kreuz mitteilt, er hätte für die Ausschüttung des Glückshormons nur noch zwei Kilometer länger durchhalten müssen. - Nein, Drogen lehne er ab.
Kein Coaching ohne positives Denken! Unglück gilt als Schande – in der realen Welt, weil es die Propaganda, dass der Arbeitsplatz ein Glück sei, als Lüge entlarvt, in der esoterischen Welt, weil sie das Unglück als Selbstverschulden geißelt. Arbeitskräfte, denen Zeit, Tageslicht, Lebenskraft, Gesundheit, Selbstbestimmung und Selbstvertrauen geraubt werden, müssen schon bei Bewerbungen den Eindruck erwecken, dass sie sich genau darauf freuen. Fortgeschrittene funktionieren wie Synchronschwimmerinnen, die beim Auftauchen wie Karpfen nach Luft schnappen und dabei die Kampfrichter angrinsen, oder wie Eiskunstläufer, die bei jedem Sturz zuversichtlich lachen, obwohl sie alle Hoffnungen begraben müssen.
Beliebt sind die Lachkurse von Dr. Eckard von Hirschhausen, obwohl er noch altmodisch mit Witzen arbeitet. Roger Cohen kommt ohne Witz aus. Sein Vater hatte sein Leben lang Paviane beobachtet und kurz vorm Tod erkannt: „Lachen verlängert das Leben“ und erleichtere das Dasein. Roger wusste: „In der Welt der Kalorienzähler wird weniger gelacht.“ Es kam aber darauf an, sowohl die Kalorienzufuhr zu senken als auch das Lachen zu optimieren. Er empfahl Rose (74), die ein faltenloses Model sein wollte, mehrmals täglich unmotiviert zu lachen. Rose ging in einen Lachclub, wo sie viele traurige Menschen traf, die sich nach einem Glücksgefühl sehnten. Die Trainerin klatschte in die Hände wie eine resolute Tanzlehrerin und befahl, alle sollten sich anfassen und rufen: „Wir sind die mutigsten Menschen der Welt. Ja-ja-ja! Ha-ha-ha!“ Manchmal müssen sie zusätzlich hüpfen. Das sieht so komisch aus - besonders, wenn Dicke aus der Puste sind -, dass sich alle vor Lachen krümmen und sich so glücklich fühlen wie Leichen, denen soeben mitgeteilt wurde, dass ihr Tod nur ein Versehen des Arztes war.
Ich lache mehrmals am Tag ausgiebig. Mein Problem: Ich bin 66 und kann nicht singen, will aber ein berühmter Opernsänger werden. Mein Personal-Coach Stuart Wilde verwendet die Methode: „Mit Affirmationen das Leben meistern“. Ich trete jeden Morgen vor den Spiegel und sage laut: „Ich bin ewig, unsterblich, allumfassend und unendlich“ und: „Kann nicht, gibt es nicht.“ Ab Morgen nehme ich Gesangsunterricht, denn ich weiß: „Ich werde der größte 94-jährige Opernsänger, den die Welt je gesehen hat – und wenn ich hundert Jahre werden muss, um das zu erreichen!“ Wie ich mit 94 ein Opernstar sein kann, wenn ich bis Hundert üben muss, werde ich noch herausfinden. Wer keine Extravaganzen anstrebt, sondern sich nach Wilde’s Motto: „Nur die sehr Starken werden bestehen, der Rest wird zurücktreten müssen“ nur ertüchtigen will, bucht Timothy Ferriss, den Guru der Selbstvermesser, der genau weiß, wie man „vom Weichei zum Muskelmann“ und „zur fleischlosen Maschine“ wird mit einem „perfekten Hintern“, an dem jeder Solidargedanke abprallt.
Der Coach muss einiges drauf haben. Er hat Menschen mit der psychischen Härte auszustatten, die für ihre Mutation vom Subjekt zum Objekt nötig ist, und hilft, den Kapitalkreislauf zu vollenden, indem er Menschen dazu bringt, auch ihre Freizeit mit Arbeit zu füllen, um die berufliche Tauglichkeit zu verbessern, jünger auszusehen und sich zu kompetenten Konsumenten zu entwickeln. Am Ende ist der Konsument zugleich ehrenamtlicher Verkäufer von Waren und Diensten an sich selbst, sodass Saturn, HUK-Coburg oder Demeter ihr Personal nach Hause schicken können. Der gute Coach ist außerdem ein gefragter Mediator, der im Kapitalbetrieb legitime Proteste in harmlose Konflikte umwandelt, die er dann durch hinhaltende Regelungsprozesse erstickt. Dazu muss er eine Stimmung erzeugen, in der die Beteiligten sich schon deshalb nach einem schnellen Kompromiss sehnen, weil sie die Beratungstortour hinter sich bringen wollen. In alternativen Betrieben signalisiert die Berufung eines Mediators das Ende der Solidarität. Meistens will eine Gruppe mit seiner Hilfe die andere vom Kommerz überzeugen.
Die aktuelle Zeit Campus berichtet von Büros mit Rundum-Coaching. In der Hauptverwaltung einer Sparkasse stellen 1,20 Meter breite, blaue Plastikfolien Flüsse dar. Wenn ein Angestellter nicht hinüber springt, wird Alarm ausgelöst und die Kollegen rufen: „Der Peters ist in den Fluss gefallen!“ Auch Reckstangen für Klimmzüge und Bälle gibt es. Gespräche finden an Stehtischen statt, Konferenzräume tragen Namen der bayerischen Alpen, Teamleiter heißen „Häuptlinge“, Angestellte „Berater“. Alle sitzen hinter Glas. Wenn der Chef vorbeigeht, winken die Berater ihm fröhlich zu. Morgens treffen sie sich um sieben zum Joggen, für den Abend organisieren Häuptlinge Konzertbesuche. In der Mittagspause gibt es Pilates und Konfliktberatung. Das Frauenhofer-Institut ermittelte einen Produktivitätsanstieg um 36 Prozent.
Sir Robert Bannister, der erste Mensch, der die Meile unter vier Minuten lief, fasste die Gesinnung unserer Epoche zusammen: „Wir rennen nicht, weil wir glauben, dass es uns gut tut, sondern, weil (...) wir gar nicht anders können. Je geregelter unsere Gesellschaft und unsere Arbeit werden, desto notwendiger wird es sein, ein Ventil für diesen Freiheitsdrang zu finden. Niemand kann einem vorschreiben, ‚Du darfst nur soundso schnell laufen und nur soundso hoch springen’. Der menschliche Geist lässt sich nicht bändigen.“ Früher zettelte der ungebändigte Geist Revolutionen an, heute läuft und springt er seiner Empörung davon.
Der Mensch rächt sich für das, was ihn quält, an seinem Körper. Die Tortur erklärt, warum positiv Denkende keine zufriedenen Menschen sind, sondern arme Teufel oder grinsende Rohlinge, die das Gespräch über Flüchtlinge, die im Mittelmeer versenkt werden, als Spaßbremse abtun. Die Übermacht der Dinge ist ihnen derart in die Glieder gefahren, dass sie sich selbst messen, kontrollieren und disziplinieren, so dass sie der Peitsche nicht bedürfen. Sie geißeln sich und stellen die Ernährung um, weil sie glauben, dass sie für ihre Krankheit und ihren Tod verantwortlich sind. Ängstlich achten sie auf Berichte, die ihnen vorrechnen, wie hoch Krankheit, Pflege, Arbeitslosigkeit und fehlende Fitness die Gesellschaft belasten und die suggerieren, dass, wer nicht mitmacht, genauso draußen ist wie der Kommunist.
Wie Anti-Coaching geht, erfährt man durch Marx-Brothers-Filme, in denen Groucho Marx ständig unaufgefordert in die Rolle des Coaches schlüpft, um das Leben so durcheinander zu bringen, dass am Ende keiner mehr weiß, worum es gegangen ist.
Erschienen in: Jungle World Nr. 1, 3. Januar 2013