Besinnliches zum 1. Mai 2012 (Rede in Siegen)

Ich grüße Euch und freue mich, dass ich nach über zehn Jahren mal wieder am 1. Mai in Siegen bin und, dass hier noch immer so viel los ist. Für mich ist der 1. Mai eher ein Tag der Besinnung. Deshalb soll auch gleich ein Philosoph zu Wort kommen. Der preußische Aufklärer Immanuel Kant meinte: „Der Mensch in den heißen Zonen erreicht nicht die Vollkommenheit der temperierten Zonen. Der Einwohner des klimatisch gemäßigten Erdstrichs (also wir) ist arbeitsamer, scherzhafter, gemäßigter ... und verständiger als irgendeine andere Gattung in der Welt. Daher haben diese Völker zu allen Zeiten die anderen belehrt und durch Waffen gezwungen.“

Ich will Kant antworten: Es strengt andererseits auch an, immer arbeitsamer und gemäßigter zu sein als alle anderen auf der Welt. Das schlägt aufs Gemüt und darunter leidet bisweilen der Scherz. Bei der Übertragung der Deutschen Einheitsfeier sagte ein Reporter: „20 Jahre Deutsche Einheit, aber es kommt keine Freude und keine Feierstimmung auf; Westdeutsche fühlen sich als Opfer der Ostdeutschen, Ostdeutsche als Opfer der Westdeutschen.“ Ich will ihn ergänzen: Beide fühlen sich als Opfer der EU, des Euro, einer Globalisierung, als Opfer von Finanzen, Amerikanern, Moslems, Juden oder Außerirdischen. Deutsche fühlen sich immer als Opfer! Meine Forschung hat ergeben: Das kommt vom Nibelungen-Lied. Kein anderes Land hat ein National-Epos, in dem die eigene Sippe am Ende komplett draufgeht. Das sitzt tief, das wirst du nicht mehr los.

Arbeitsamer und genügsamer stimmt (ich komme darauf zurück), aber scherzhafter? Das kann man nicht behaupten. Da konnte der Banker Sarrazin jeden Tag im Fernsehen erzählen, dass Emigranten und Arbeitslose dem Bruttosozialprodukt schaden, während seine Bankerzunft in Deutschland gerade 400 Milliarden verspielt hatte. Aber keiner lachte ihn aus. Im Gegenteil: Sein neurotisches Buch ist das am meisten verkaufte Sachbuch in Deutschland – ich glaube: nach der Bibel und „Mein Kampf“.

Immanuel Kant hat vollkommen Recht mit seiner Bemerkung über die Belehrung anderer Völker. Angela Merkel sprach zu den Griechen: „Ihr müsst sparen, ihr müsst redlich werden, ihr müsst euch ehrlich machen!“ Mach dich ehrlich, Grieche! Das sagt eine Deutsche! Deutschland hat in der NS-Zeit in Griechenland die Banken ausgeraubt, um Rommels Feldzug in Nordafrika zu finanzieren, und bis heute keinen Cent zurückgezahlt. Auch nicht für die Besatzungsschäden.

Wenn Merkel damit droht, den Griechen das Stimmrecht in der EU zu entziehen und einen deutschen Pontius Pilatus nach Athen zu schicken, kann die Welt sich glücklich schätzen, dass Deutschland militärisch noch etwas schwach auf der Brust ist. Es reicht leider fürs Versenken von Flüchtlingsbooten oder für das Freischießen der Transportwege auf hoher See und in Zukunft auch auf dem Land.

Deutschland ist jetzt die Führungsmacht in Europa. Das liegt nicht an politischer Weitsicht, sondern an der überlegenen Produktivität und dem Euro, der anderen die Möglichkeit nimmt, ihre Wettbewerbsnachteile durch Währungsabwertungen abzufedern. Bei einer gemeinsamen Währung nimmt der produktive Raum den anderen kontinuierlich Produktion und Beschäftigung weg (die gleiche Wirkung erzielte die D-Mark nach der Wiedervereinigung) und überschwemmt deren Märkte mit eigenen Exportwaren, die sie irgendwann nicht mehr bezahlen können. Wenn es soweit ist, drangsaliert Deutschland das übrige Europa mit Zwangsmaßnahmen, die man früher vom IWF gegenüber Südamerika oder Afrika kannte.

Nach Berechnungen von McKinsey macht Deutschland nur durch den Euro einen jährlichen Gewinn von 165 Milliarden Euro; in 15 Jahren sind das 2.500 Milliarden. Wenn davon 3 Prozent in einen Rettungsfond fließen, ist das nichts. Aber der Bild-Zeitung genügt das, Monat für Monat zu lügen, dass Deutschland die Melkkuh Europas sei. Die „Süddeutsche Zeitung“ schrieb: Die Deutsche Politik weckt die Vorstellung, „dass die Deutschen nach zwei misslungenen militärischen Versuchen die gemeinsame Währung nutzen könnten, um Europa zu beherrschen“. Und der kluge Spekulant Soros sagt: Es wäre ein Segen für alle, wenn Deutschland die EU verlassen würde, weil Deutschland seine Krisenlasten den Schuldnerländern aufbürde und so eine „Abwärtsspirale, Nationalismus, Gefährdung der Demokratien“ riskiere.

Ich weiß nicht, wie lange das gut geht. Eine Schweizerin von der neuen Bewegung „Deutsche raus aus der Schweiz!“ sagte gestern: „Die Deutschen haben keinen Humor und spielen gern Kommando-Zentrale.“ Deshalb mache sie da mit. Frankreichs Präsidentschafts-Kandidat Holland sagt: Wenn er regiert, werde Deutschland nicht länger über den Rest Europas entscheiden. Aber leicht wird es nicht, gegen Deutschland anzukommen. 10 Jahre Lohnstagnation sind 10 Jahre Steigerung der Produktivität unter Verzicht, daran beteiligt zu werden. Man könnte sagen: Das deutsche Proletariat hat durch seinen Verzicht das übrige Europa an die Wand gearbeitet und für Deutschlands Hegemonie gesorgt, ohne etwas dafür zu kriegen - außer Arbeit.

Wenn wir wissen wollen, woher diese Arbeitsethik kommt, müssen wir weit zurückgehen, bis in jene Zeit, als Gott die Menschen schuf. Ihr kennt die Geschichte. Gott setzt Adam und Eva in den Garten Eden und sagt: Sie sollen essen von allerlei Bäumen, nur nicht vom Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen. Die Schlange kommt vorbei und sagt: Warum soll der Mensch nicht wissen, was gut und böse ist. Klingt vernünftig, denkt Eva, pflückt den Apfel und beide beißen ab. Gott kommt dahinter, vertreibt sie aus dem Paradies und brüllt hinterher: Zur Strafe soll die Frau in Schmerzen gebären und der Mann soll arbeiten. „Mit Kummer sollst du dich ernähren dein Leben lang, im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen." Arbeit ist also von Anfang an ein Fluch Gottes, den die Christen dann über die Menschheit brachten.

Paulus („Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen“), die Benediktiner („Arbeit und Gebet“), Martin Luther, der die Arbeit um ihrer selbst Willen pries. Irgendwann sagte der Volksmund: „Müßiggang ist aller Laster Anfang!" Ich arbeite, also bin ich. Ich arbeite nicht, also bin ich schuldig! Die schwerste Prüfung des Menschen ist ja Müßiggang ohne schlechtes Gewissen. Warum? Wer Muße hat, blickt in sich hinein. Was sieht er? Leere, Einsamkeit, Elend durch die Wahrnehmung dessen, was die Verhältnisse, zu denen auch Vater und Mutter gehören, ihm angetan haben. Dem kann der Mensch nur entkommen, wenn er immer etwas vorhat. Deshalb blühen in Deutschland die Heimwerker-Märkte.

Die am meisten gehassten Menschen sind nach der Studie „Deutsche Zustände“ die Langzeitarbeitslosen. Sie liegen noch vor Griechen, Moslems und Juden. 72 Prozent plädieren für Zwangsarbeit. Im Hass auf die, die morgens ausschlafen können, spiegelt sich die eigene Entbehrung. Ich las letzte Woche: „Alarmierende Studie: 80 Prozent der Deutschen gehen frustriert zur Arbeit.“ So ist es. Arbeitslose müssen sichtbar im Elend hausen, damit die Beschäftigten sich der täglichen Tortour aussetzen. Die Demütigung der Arbeitslosen ist ein Erziehungsmodell zur Disziplinierung aller Erwerbstätigen. Deshalb gibt es jetzt kein Betreuungsgeld für Hartz-IV-Familien, deshalb beleidigt Sozialdemokrat Bukowski sie jede Woche im Fernsehen als bildungsferne Säufer. Ich war 12 Jahre Betriebsrat in einem Mineralöl-Konzern und kann ein Lied davon singen, wie viele Manager, Facharbeiter und Angestellte täglich zur Flasche greifen. Das sollen Arbeitslose erst einmal schaffen.

Bekanntlich ist nicht nur der Mensch, sondern auch das System in der Krise. Wenn Menschen Billionen für Rettungsfonds abgepresst werden müssen, um dem Kapital Konjunkturen zu kaufen und Banken und Staaten vor dem Ruin zu bewahren, dann ist einiges kaputt. Tatsächlich befindet sich aber nicht der ganze Kapitalismus in der Krise, sondern nur der alte, demokratisch verfasste in den USA und Europa. Die freuen sich über 1 Prozent Wachstum, während China um 10 Prozent wächst. Eine Bestätigung von Karl Marx, der analysierte, dass durch das schnellere Anwachsen des dinglichen Kapitalblocks im Verhältnis zur lebendigen Arbeit die Profitrate sinkt und damit auch das Wachstum.

Während der alte Kapitalismus also in der Krise steckt, begibt sich die halbe Menschheit in China, Brasilien, Indien, Saudi Arabien auf den Weg der größten Industrialisierung der Geschichte. China steigert sein Industriepotenzial in 40 Jahren um das 19-fache. Dafür benötigten die USA 160 Jahre. In den nächsten 20 Jahren wird das Industrie-Potential sich verdoppelt haben. Gleichzeitig erlebt der Kapitalismus den Beginn der nächsten industriellen Revolution: die Umrüstung auf regenerative Techniken.

Die grüne Revolution kommt nicht wegen einer Gesinnung, sie ist die pure Notwendigkeit, weil die massive Industrialisierung sich auf der bisherigen stofflichen Basis gar nicht bewältigen lässt und weil Umweltschäden immer mehr von der Wertsteigerung weg fressen. Diese industrielle Revolution wird alles andere als sanft verlaufen. Mega-Windparks, Solarfabriken, Speicherfabriken, Strom-Autobahnen, die Elektromobilität, die Kommunikationssysteme verlangen mehr Beton, Stahl und Kupfer als in den 60er Jahren, dazu Seltene Erden und Böden für Industrie- und Treibstoffpflanzen, statt für Nahrungsmittel.

Die ungleiche ökonomische Entwicklung führt zu großen Machtverschiebungen. Die Welt steuert auf drei Machtzentren zu: China, USA und Europa, sofern es gelingt, den Euro-Raum zu sanieren und als homogenen Machtblock zu installieren. Die westliche Einflusssphäre, die sich nach dem Zerfall des Sowjetreiches ständig ausgedehnt hatte, schrumpft wieder. Die Schwellenländer jagen den alten Imperien überall Länder, Meere und Beschäftigung ab, fünf neureiche Staaten halten die Hälfte der Devisenreserven der Welt. Wo der Westen seine Soldaten abzieht, rückt das chinesische Militär ein, von Asien bis Afrika.

Ich will nicht Nostradamus spielen, aber die Welt ist voller Kriege, von denen ein Großbrand ausgehen kann. Im Irak und Syrien kämpfen der Iran und Saudi Arabien mit ihren klerikalen Milizen um die regionale Vorherrschaft. Hinter dem Iran stehen Russland und China, hinter Saudi Arabien die USA. Chinas Satellit Nordkorea hat vergangene Woche Südkorea die Vernichtung angedroht. Im südchinesischen Meer halten die USA und Vietnam eine gemeinsame Militärübung ab, im gelben Meer üben gerade die russische und die chinesische Marine gemeinsam.

Die USA verlagern immer mehr Militär nach Asien, weil sich das ökonomische und geostrategische Zentrum nach Asien verschiebt und, weil einige Nachbarn von China die USA darum bitten. China wird aus den Nähten platzen wie früher das schnell nachindustrialisierende Deutschland vor dem Ersten Weltkrieg. Henry Kissinger schrieb: Wenn in Asien „eine Hegemonie droht wird Amerika ebenso einschreiten wie im Zweiten Weltkrieg gegen Japan“. Eine Entscheidungsschlacht sei aber „nicht im ersten Viertel des Jahrhunderts“ zu erwarten.

Ich will in Zusammenhang mit der Krise auf einen Mythos eingehen. In jeder Krise wächst der Mythos von dem guten schaffenden Kapitalismus und dem bösen raffenden Finanz-Kapital, von dem Eingeweihte dunkel raunen, er werde von New York aus gesteuert, wo Juden das Sagen haben sollen. Warum campen Leute nur vor Banken und nicht auch vor dem Werkstor von VW, durch das Menschen jeden Tag in die Diktatur gehen? Wer die Kritik am Kapitalismus auf Banken reduziert, adelt die Frühschicht bei VW und meistens das vaterländische Kapital. Betriebsrat Klaus Franz zieht das Hemd „Wir sind Opel“ über und sagt: „Opel ist deutsches Gefühl und deutsche Geschichte.“ Ja, Reichspräsident Hindenburg hat 1930 einmal aus einem offenen Opel gewinkt. Da war Opel aber schon amerikanisch. Die Identifikation mit der Nation, der Firma oder einem Auto kennzeichnet stets die Selbstaufgabe des Individuums.

Theoretisch ist das sowieso nicht haltbar. Das Finanzdebakel ist immer nur eine Folge der Krise, eine Folge des sinkenden Profits, der zu einer Flucht des Geldes in die Spekulation führt. Und Realkapital und Finanzkapital lassen sich nicht trennen, schon gar nicht nach gut und böse. Adolf Merkle von Ratiopharm sammelte Firmen wie andere Briefmarken – alle auf Kredit. Bis er 20 Mrden Schulden hatte. In der Not wettete er auf sinkende VW-Kurse. Wiedeking von Porsche wettete gerade auf steigende Kurse, weil er VW schlucken wollte. Merkle verlor sein Geld und warf sich vor die Donautalbahn. Danach hat Ferdinand Piech Wiedeking erledigt. Hauen und Stechen bis zum Tod auf der Bühne des schaffenden Kapitals.

Wir müssen im Blick behalten, dass der Kapitalismus in der Sphäre der Mehrwertproduktion ins 19. Jahrhundert zurückgeht – mit Menschenhandel und Tagelöhnern. Ein Händler holt Bulgaren, leiht sie aus an eine andere Firma, die sie per Werkvertrag an Audi verleiht. Pässe weg, Prügelstrafe, 5 Euro die Stunde, oft wird nur ein Bruchteil ausgezahlt. Gastwirte vermieten ihre Schankräume und Kegelbahnen an 40 Lohnsklaven, andere werden zu hohen Mieten in Häuser gesteckt, die längst abgerissen gehören. Die Verhältnisse gehen bei uns derart zu Bruch, dass Dänemark Deutschland als Billiglohn-Land entdeckt hat und Fisch-Fabriken nach Schleswig-Holstein umsiedelt, weil die Löhne da 30 bis 50 Prozent unter den dänischen liegen.

Nun will IBM über das Crowdsourcing permanent die Internet-Gemeinde einladen, entweder unentgeltlich oder für Minimal-Prämien Lösungen für den Konzern auszuarbeiten. Dadurch will IBM 8000 Leute einsparen. Die Mitmach-Systeme im Internet, die eine Gesellschaft spielend in ein unbezahltes Freizeit-Proletariat verwandeln, sind das materielle Fundament für den Aufstieg der Piratenpartei. Man könnte ja fragen, warum nur im Netz alles umsonst sein soll. Viele wären glücklich, wenn sie auch bei Rewe, im Elektro- und Fahrradmarkt oder in Apotheken alles umsonst einpacken könnten. Darum geht es den Piraten gerade nicht. Der neue Piratenchef aus dem Verteidigungsministerium sagt, man wolle „Leistungsbereitschaft belohnen“, und im Programm steht: „Die ständige Verfügbarkeit und Reproduktion des Wissens erhöht die Produktivität von Arbeitern. Die Wiederverwertbarkeit steigert gleichzeitig die Effizienz des Schaffungsprozesses.“ Das klingt nach McKinsey – im Jargon von 1936.

Wir erleben die Taylorisierung der Politik. Die Demokratie reagiert auf die Flexibilität des Marktes mit dem Zerfall in Spezialparteien zur Modernisierung des Kapitalismus: Piraten als wirtschaftsliberale Netzpartei, Grüne für die Energiewende, FDP für Ärztehonorare und Wachstum, Linkspartei für Hartz IV und soziale Restposten, es sei denn, sie besinnt sich darauf, wieder das ganze System zu kritisieren. Der Rechtspopulismus ist bei uns in Wahlen nicht so erfolgreich wie in den Nachbarländern, weil diese Gesinnung sich bei uns auf viele Träger verteilt.

Bei uns überwachen Nazis den Geheimdienst und die Polizei, sodass sie 12 Jahre unbehelligt morden können. Das hört erst auf, wenn sie sich gegenseitig erschießen. Wir haben „Sarrazin“, zu dessen Lesungen mehr Leute pilgern als nach Altötting. Und bei uns ist der Rechtspopulismus „Präsident“. Für Gauck sind Kommunismus und die DDR „ebenso totalitär wie der Nationalsozialismus“, er mag nicht, „wenn das Geschehen des deutschen Judenmordes in eine Einzigartigkeit überhöht wird“. Wer wollte denn außer den Deutschen alle Juden vernichten und hat die Vernichtungsmaschinen in Betrieb genommen? Auch in ihm lösen „Ausländermilieus Unbehagen aus“, sagt er. Er fordert Emigranten auf: „Wenn ihr wollt, dass eure Kinder mitspielen, sorgt dafür, dass sie Deutsch sprechen!“ Der schwarze Fußballspieler Asamoah spricht deutsch wie ein Hannoveraner und wurde in Cottbus von allen, die in seiner Nähe waren, angespuckt. Gauck will eine Gesellschaft, in der alle „ihre Lebensbedingungen selbst verbessern“, also den Sozialdarwinismus. Die Präsidentenauswahl offenbart eine gewisse Verkommenheit von SPD und Grünen.

Ein paar Bemerkungen Zum Schluss. Fast schon revolutionär wäre es, wenn das System nicht nur wegen seiner Krisen kritisiert würde, sondern wegen seines Normalbetriebs, und nicht nur wegen seiner Finanzen, sondern wegen des Ganzen. Marktwirtschaft ist permanente Selektion nach den Kriterien „stark“ und „schwach“. Für sie sind Arbeitslose, Rentner und Kranke eine überschüssige Last, weil sie Wert verbrauchen, ohne selbst Mehrwert zu produzieren. Die verteilbare Profitmasse wächst mit jeder Privatisierung von Lebensrisiken und mit dem früheren Tod dieser Menschen. Der Markt wird Holland schwimmende Städte verkaufen und in Bangladesch 200 Millionen Menschen dem Meer überlassen. Für ihn ist alles Unproduktive dem Untergang geweiht.

Das müsste eigentlich genügen, um dieses System beseitigen zu wollen und an seiner Stelle solidarische und behutsame Produktions- und Lebensverhältnisse zu versuchen. Aber das Bewusstsein spielt nicht mit. Das Bewusstsein hat sich heute an der griechischen Krankheit zu messen. Deutsche fuhren eigentlich immer ganz gern nach Griechenland. Da war’s so herrlich unproduktiv und man schien sich der Lebensfreude hinzugeben. Dann hörten sie, das sei eine Krankheit, und erschraken. Unter griechischer Krankheit fallen Gesang, Tanz, ein offenes Haus, fehlende Ehrfurcht vor der Arbeit, dem Sparen und dem Staat.

Die Leute müssen begreifen, dass man ihnen mit der Immunisierung gegen die griechische Krankheit das eigene Leben austreibt, um sie für die Vergesellschaftung der Krisenlasten zu präparieren. Also fahrt nach Griechenland, erholt euch da oder verbrennt da deutsche Fahnen, statt hier bei der Europa-Meisterschaft mit Schwarz-Rot-Gold zu wedeln!

Veröffentlicht in: